Sturmjahre
»Samantha, du bist keine gewöhnliche Frau. Du bist etwas besonderes. Du hast eine Berufung. Das weiß ich schon seit langem, und das Gefühl, dir auf deinem Weg weiterzuhelfen, war mir in den vergangenen Monaten eine große Freude. Indem ich meiner Schwäche nachgegeben habe, habe ich mich dieser Freude beraubt.«
»Nein, das verstehe ich wirklich nicht, Joshua«, erwiderte sie verwirrt.
»Wenn wir unseren Gefühlen jetzt nachgeben, werden wir ein Liebespaar, Samantha. Und ich weiß, wohin dieser Weg unweigerlich führen wird. Zur Besessenheit. Zum Selbstekel. Du wirst deinen Traum, Ärztin zu werden, um meinetwillen aufgeben. Nicht mehr deine Karriere wird der Mittelpunkt deines Lebens sein, sondern ich.«
»Wäre das denn so schlimm?«
»Wenn du eine Frau wie alle anderen wärst, nein. Aber das bist du nicht. Ich habe nicht das Recht, dich aus meinem egoistischen Verlangen heraus von deinem Weg abzubringen.«
»Aber ich kann doch weiterstudieren und gleichzeitig dich lieben!«
»Meinst du?« Er lachte bitter. »Ich weiß, welche Energie das Medizinstudium kostet, wieviel Kraft und Zielstrebigkeit man braucht, wieviel innere Ruhe. Glaubst du, du wirst diese innere Ruhe haben, wenn du bei Tag am Krankenbett meiner Frau sitzt und nachts zu mir kommst? Glaubst du, du wirst Schuldgefühle und alles Denken an mich ausblenden können, um dich einzig deinem Studium zu widmen? Und später, wenn du fertig bist, wirst du dich da auf deine Karriere konzentrieren können, wenn du einen Süchtigen am Hals hast? Bevor du in mein Leben tratst, war mein ganzes Dasein nichts als Aussichtslosigkeit. Aber dann kamst du, und durch dich bekam mein Leben einen neuen Sinn. Wenn schon für mich keine Hoffnung bestand, so konnte ich doch wenigstens dich fördern und an deiner Entwicklung zur selbstsicheren erwachsenen Frau und zur guten Ärztin teilhaben. Wenn wir uns jetzt aber hinreißen lassen, dann ist das alles verloren – dann {175} folgst du mir auf meinem elenden Weg, und ich werde mit dem Wissen leben müssen, daß ich es war, der dich in die Irre geführt hat. Ach, Samantha …«
Sie nahm ihn in die Arme. »Joshua, ich liebe dich.«
»Wenn du das wirklich tust, dann solltest du dieses Haus verlassen und niemals zurückkommen.«
Aber noch während er sprach, zog er sie fester an sich und begann von neuem, sie zu küssen. Alles, was er über Schuld und Reue, über den Abstieg in eine unglückliche Zukunft gesagt hatte, löste sich auf in der Flut der Leidenschaft. In all ihren Träumen und Phantasien hatte sich Samantha nicht vorgestellt, daß es so sein könnte, Schmerz und Ekstase zugleich, heißes Verlangen und Erfüllung in einem.
Später gingen sie in ihr Zimmer hinauf, wo niemand sie hören konnte, und dort verbrachten sie die letzten Stunden, ehe ein kalter Weihnachtsmorgen heraufzog. Als das erste graue Licht durch die Ritzen der Vorhänge fiel, löste sich Joshua von der schlafenden Samantha und schlich sich leise aus dem Zimmer.
Seinen Brief fand Samantha beim Erwachen.
»Während Du diesen Brief liest, Liebste, laufe ich auf der Suche nach Morphium durch die Straßen. Wenn ich zurückkehre, wird mich nichts interessieren als meine Spritze. Estelle hat heute morgen starke Schmerzen. Während wir uns unseren selbstsüchtigen Wünschen und Bedürfnissen überließen, lag meine Frau in einsamem Leiden in ihrem Bett. Was geschehen ist, können wir nicht ungeschehen machen, Liebste, aber wir können dafür sorgen, daß es nie wieder vorkommt. Wenn Du mich wirklich liebst und wenn Du Deiner Berufung treu bleiben willst, dann gehst Du noch heute von hier fort. Laß mir in meinem Elend einen letzten Funken Selbstachtung.«
18
Sie ging allein durch die winterlichen Straßen von Lucerne, kletterte über Schneewehen, so hoch, daß sie nur den Arm auszustrecken brauchte, um die Telegrafendrähte zu berühren, lauschte dem Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln, einziges Geräusch in der weißen Stille. Sie machte weite, einsame Wanderungen, bis ihr Gesicht vor Kälte brannte, die Finger selbst im warmen Muff gefühllos wurden, der Saum ihrer Röcke ihr klamm um die Beine schlug. Hin und wieder hörte sie aus der Ferne das Bimmeln von Schlittenglöckchen, aber sie mied die Straßen, die freigeschaufelt waren, und jene Bereiche des Sees, wo sich die Schlittschuhläu {176} fer tummelten. Sie wollte keine Menschen sehen. Sie wollte nur allein sein.
Zu Hause, in der Wärme der Stube, trat Hannah immer wieder ans
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