Sturmjahre
zurückzuziehen, doch Samantha hatte es auf eine Konfrontation ankommen lassen, und schließlich hatte der Dozent sich bereit erklärt, seinen Vortrag zu halten, wenn man dafür sorge, daß die »weibliche Person« ihm aus den Augen bliebe. Man hatte in einer Ecke einen Paravent aufgestellt und Samantha dahinter placiert. So konnte sie den Vortrag über die menschliche Sexualität hören, ohne den Dozenten durch ihren Anblick zu schockieren.
»Ehrlich gesagt«, meinte Hannah, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, »ich muß dem Professor recht geben. Es gehört sich einfach nicht, daß eine Frau sich so was anhört.«
»Aber als Ärztin muß ich das doch lernen.«
»Eine Frau läßt sich von ihrem Ehemann über solche Dinge aufklären. Sie setzt sich nicht mit einem Haufen Männer in einen Hörsaal, um sich so was anzuhören.«
{180} Samantha schwieg. Die abschließenden Worte von Dr. Millers Vortrag fielen ihr ein. »Denken Sie daran, meine Herren, da die meisten Frauenleiden sowieso nicht heilbar sind, besteht die Aufgabe des Arztes vor allem darin, einfach auf die Damen einzugehen. Sie werden feststellen, daß die meisten Patientinnen wegen Lappalien zu Ihnen kommen, die sie ungeheuer aufbauschen. Um den hochgeschätzten Dr. Oliver Wendell Holmes zu zitieren: ›Die Frau ist ein unter Verstopfung leidender Zweibeiner mit Rückenschmerzen.‹«
Hannah bückte sich, um im Rohr nach den beiden schmorenden Kartoffeln zu sehen. Im allgemeinen machte ihr das Kochen Freude; an diesem Tag hatte sie Mühe, sich zu konzentrieren. Zuvieles ging ihr im Kopf herum. Ein Wirrwarr von Gedanken und Überlegungen, die sich alle um Männer drehten.
Sie dachte an den ersten Weihnachtsfeiertag, der gerade drei Wochen vorbei war. Ein schöner Reinfall war das gewesen. Sie hatte die Idee gehabt, einen von Samanthas Kommilitonen zum Weihnachtsessen einzuladen, einen anständigen jungen Mann, der keine Familie hatte und sich freuen würde, den Nachmittag in Samanthas Gesellschaft zu verbringen.
Der junge Mann hatte einen vorzüglichen Eindruck auf Hannah gemacht. Im Wohnzimmer, wo ein loderndes Feuer brannte und die Luft nach Tannengrün roch, hatte er seinen beiden Gastgeberinnen je ein Geschenk gemacht: Ein Lavendelkissen für Hannah, ein Buch mit dem Titel
Ben Hur
für Samantha. Während Hannah sich unter Vorwänden in die Küche zurückgezogen hatte, waren die beiden jungen Leute im Wohnzimmer geblieben.
Hannah hatte heimlich ihr Gespräch belauscht.
»Ich habe gehört, Miss Hargrave, daß ein polnischer Chirurg in Wien nur noch mit sterilen Leinenhandschuhen operiert. Die anderen Studenten haben sich darüber kaputt gelacht, aber so albern finde ich das gar nicht. Was meinen Sie, Miss Hargrave?«
»Wenn die Mikrobentheorie zutrifft, Mr. Goodman, dann ist es durchaus möglich, daß offene Wunden über die Hände des Operateurs infiziert werden können. Aber ich stelle mir vor, daß dem Operateur das Fingerspitzengefühl verlorengeht, wenn er mit Handschuhen arbeitet.«
Zaghaft versuchend, das Gespräch auf persönlichere Dinge zu lenken, sagte der junge Mann: »Ich hoffe sehr, daß das Buch Ihnen gefallen wird, Miss Hargrave. Es ist eine sehr fesselnde Darstellung des Lebens Christi.«
{181} »Ach, zum Lesen von Romanen komme ich leider kaum, Mr. Goodman. Meine Lektüre beschränkt sich auf Lehrbücher und Fachzeitschriften. Da habe ich übrigens neulich im
Boston Journal
einen Artikel von einem Dr. Tait aus England gelesen, der eine erfolgreiche Blinddarmoperation durchgeführt hat. Und wissen Sie, worauf er es zurückführt, daß sein Patient überlebte? Er sterilisierte vor der Operation die Instrumente …«
Hannah wäre am liebsten ins Zimmer gestürzt und hätte Samantha gründlich geschüttelt. Verdammt noch mal, Mädchen, dachte sie, du bist ja völlig verbohrt. Wenn du so weitermachst, wirst du garantiert eine alte Jungfer!
Hannah stand erschöpft am Herd und strich sich mit der Hand über die Stirn. Was war nur heute los mit ihr? Sie neigte doch sonst nicht zu Grübeleien! Aber Hannah Mallone wußte nur zu gut, was mit ihr los war; sich ahnungslos zu stellen, half gar nichts. Das Problem, das sie seit Wochen bedrängte, wurde dadurch nicht aus der Welt geschafft. Sie mußte endlich den Mut aufbringen, die furchtbare Entscheidung, zu der sie sich durchgerungen hatte, in die Tat umzusetzen. Sie mußte endlich den Mut aufbringen, Samantha um Hilfe zu bitten.
Hannah wusch sich die Hände, trocknete sie an ihrer
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