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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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und lauschte. Im Erdgeschoß tappte jemand herum.
    Sie nahm die Lampe und schlich sich in den Flur hinaus. Nachdem sie festgestellt hatte, daß bei Mrs. Wiggen alles dunkel war, stieg sie leise die Treppe hinunter zum ersten Stock. Auch hier war alles still und dunkel. Sie beugte sich über das Treppengeländer und sah unter der Tür des Sprechzimmers Licht. Mit angehaltenem Atem ging sie weiter und blieb am Fuß der Treppe erneut stehen, um zu lauschen. Sie hörte im Sprechzimmer das Klirren von Flaschen und Dosen.
    Das konnte nur ein Patient sein, der dringend ein Medikament brauchte, aber nicht dafür bezahlen konnte. Sie hatte davon gehört, daß solche Einbrüche bei Ärzten immer wieder vorkamen. Samantha hatte keine Angst; sie war überzeugt, sie würde mit dem Eindringling vernünftig sprechen können.
    {169} Langsam drehte sie den Türknauf und öffnete. Dann fuhr sie erschrocken zurück.
    Joshua Masefield stand mitten in einem Haufen Flaschen und Dosen, die er aus dem Schrank gefegt hatte. Als sie eintrat, fuhr er herum und sagte heiser: »Wo ist es, Miss Hargrave?«
    Samantha war sprachlos.
    »Wo ist das Morphium?« Joshua hielt eine Spritze in der Hand. Der Ärmel seines Hemdes war aufgerollt. »Hier war heute morgen noch eine Flasche Magendie. Wo ist sie?«
    »Der kleine Evans«, sagte Samantha hastig. »Er war heute nachmittag hier. Mit einem Loch im Kopf. Ich mußte es nähen. Sie waren nicht da. Ich habe ihm eine Spritze gegeben –«
    »Aber es muß doch noch etwas da sein.«
    »Er hatte Angst. Er schlug nach meiner Hand, und da fiel mir die Spritze herunter. Dann kippte er die Flasche um. Es lief eine ganze Menge heraus.«
    »Heißt das, daß
nichts
mehr da ist? Verdammt noch mal, Miss Hargrave!
    Sie haben das ganze Morphium verbraucht und mir nichts davon gesagt!«
    »Ich hielt es nicht für nö –«
    »Morgen ist Feiertag!« schrie er sie an. »Wo soll ich da was herbekommen?« Samantha sah, daß seine Pupillen unnatürlich geweitet waren. Seine Augen tränten, und er schwitzte stark. Sie stellte die Lampe nieder und schloß die Tür.
    »Wenn Sie Schmerzen haben, Dr. Masefield, sind ja noch die Tabletten da.«
    Er wandte sich von ihr ab und ging hinkend zum Medikamentenschrank.
    »Haben Sie sich das Bein verletzt, Doktor?«
    »Ich brauche die Injektion«, murmelte er, während er die Flaschen auf den Borden herumschob. Als er versehentlich die mit dem Karbol umstieß, sprang Samantha hinzu, aber es war zu spät; die Flasche zersprang auf dem Boden, und sofort breitete sich im ganzen Raum der durchdringende Geruch der Säure aus.
    »Dr. Masefield, wie kann ich Ihnen helfen? Wie haben Sie sich verletzt?«
    »O Gott! Muß ich es Ihnen wirklich erst sagen? Haben Sie in den vergangenen anderthalb Jahren überhaupt nichts gelernt? Ich habe mich nicht verletzt; ich bin morphiumsüchtig!«
    Sie war so entsetzt, daß sie kein Wort hervorbringen konnte. Joshua {170} stand vor ihr und starrte sie an wie ein Wahnsinniger. Er keuchte, als wäre er gerannt, und sein Hemd war an vielen Stellen von Schweiß durchtränkt.
    Lange standen sie so da und starrten einander stumm an. Dann ging Samantha an ihm vorbei zum Schrank. Ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Hier muß doch etwas dabei sein, was Sie fürs erste nehmen können, Dr. Masefield. Gleich morgen früh geh’ ich in den Drugstore –«
    »Das ist alles nicht stark genug«, antwortete er, nach seinem zornigen Ausbruch plötzlich sehr gedämpft. »Ich bin bei drei Gran pro Tag.«
    Der Schrank vor Samanthas Augen verschwamm in Tränen. Und doch sah sie plötzlich alles mit grauenvoller Klarheit. Sie wußte jetzt den wahren Grund für die Flucht aus Philadelphia, den wahren Grund für sein zurückgezogenes Leben. Blind griff sie nach einer Flasche. »Morphium ist doch ein Derivat von Opium, nicht wahr?«
    »Laudanum hilft nicht. Ich brauche drei Gran intravenös.«
    Verzweifelt um ihre Fassung kämpfend, drehte sie sich um und hielt ihm die Flasche hin. »Das hilft wenigstens gegen die schlimmsten Symptome. Morgen früh gehe ich zu Mr. DeWinter. Wenn er nicht zu Hause ist, versuche ich es bei Dr. Newman.«
    Sein Gesicht zeigte tiefe Scham, als er die Flasche nahm. Dann wandte er sich ab und ging in sein Arbeitszimmer, während Samantha, ohne auf ihr Kleid Rücksicht zu nehmen, niederkniete und den Boden des Sprechzimmers säuberte.
    Zehn Minuten später ging sie zu ihm. Er saß zusammengesunken in einem Sessel und starrte in die kalte Asche im offenen

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