Sturmjahre
Symbol war. Er war wie die Blume, die man zwischen den Seiten eines Buches aufbewahrt: Man liebt nicht die Blume, sondern das, was sie verkörpert, einen Augenblick, der einem teuer ist. Joshua verkörperte für Samantha den Wendepunkt vom Mädchen zur Frau, schon darum würde sie ihn nie vergessen. Doch sie konnte es jetzt akzeptieren, daß sie ihn niemals wiedersehen, nie wieder von ihm hören würde.
Nachdem es ihr gelungen war, Joshua seinen Platz zu geben, konnte sie {178} sich nun von der Vergangenheit lösen und der Zukunft zuwenden. Und da kam ihr eine weitere Erkenntnis, die ihr zunächst fremd und sonderbar erschien: Sie war wirklich zur Medizin berufen. Als sie das erkannte, was Isaiah Hawksbill, Elizabeth Blackwell und Joshua lange vor ihr erkannt hatten, beschloß sie, sich zu dieser Berufung zu bekennen und sich durch nichts von ihrem Weg ablenken zu lassen.
Ende August teilte ihr Louisa glücklich mit, daß sie und Luther heiraten würden. Sie gratulierte den beiden und schickte ihnen ein Teeservice, das sie bei Mrs. Kendall erstand.
Der Herbst kam rasch, und plötzlich war der Beginn des neuen Studienjahres da. Frei von innerer Unruhe und quälenden Gedanken – geradeso, wie Joshua es für sie gewünscht hatte –, widmete sich Samantha mit uneingeschränkter Hingabe ihren Studien und der Verfolgung ihres Lebensziels.
Im Oktober ging Sean wieder fort. Das Haus schien Hannah leer ohne ihn, so leer wie ihre Tage. Sie begann wieder, sich über Samantha Gedanken zu machen. So ungern sie es eingestand, das Mädchen hatte sich tatsächlich verändert. Wenn sie abends am Feuer saßen, während der Novemberregen an die Fensterscheiben prasselte, blickte Hannah oft von ihrer Handarbeit auf und betrachtete Samantha, die über irgendein Lehrbuch gebeugt saß, und fragte sich, wieso, zum Teufel, dieses Mädchen so verschlossen war und nicht ein einziges Mal den Versuch gemacht hatte, ihr Herz auszuschütten.
In Hannahs Augen war das einfach nicht in Ordnung; schon gar nicht angesichts der Studien, die Samantha betrieb, die sie zwangen, die geheimsten Winkel des Körpers eines Menschen zu erforschen. Einem Arzt blieb nichts verborgen; er sah die Menschen in ihrer Nacktheit und erfuhr ihre intimsten Geheimnisse. Wie kam es, daß gerade Samantha, die diesen Beruf ergreifen wollte, in dem ihr nichts Menschliches fremd bleiben würde, sich so verschloß?
Vielleicht, dachte Hannah, war genau das der Grund: Vielleicht hatte man, wenn einem täglich die intimsten Dinge offenbart wurden, das Bedürfnis, an einem letzten Fetzchen Geheimnis festzuhalten. Vielleicht hielt man es im Grunde seines Wesens nicht für naturgewollt, so tief in andere hineinsehen zu können, und versperrte, um wenigstens ein letztes Stück Geheimnis zu bewahren, unwillkürlich die eigene innere Tür. Der alte Doktor Shaughnessey, dachte Hannah, während sie sich wieder über ihre Stickerei beugte, war auch so ein zugeknöpfter Mensch. Er wußte alles über jeden im Ort, doch er sel {179} ber blieb ein Rätsel. Waren alle Ärzte so? Vielleicht. Samantha war jedenfalls auf dem besten Weg, so zu werden. Hannah zuckte die Achseln. Wozu diese Spekulationen? Sie würde ja doch nie klug werden aus Samantha.
19
»Es war absolut erniedrigend«, erklärte Samantha empört, während sie ein Loch in einem ihrer Strümpfe stopfte. »Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist und ich mein Diplom in der Tasche habe. Dann bin ich Ärztin und brauche mir solche Unverschämtheiten nicht mehr gefallen zu lassen.«
Hannah warf ihr einen raschen Seitenblick zu, der besagte, wenn du dich da nur nicht täuschst, Herzchen. Aber sie hielt den Mund. Hannah Mallone hatte andere Sorgen.
Es war ein bleigrauer Januarnachmittag, ein eisiger Sturm tobte um das Haus, und Samanthas Hände waren kalt trotz des wärmenden Feuers. Sie war rastlos, fühlte sich eingesperrt. Sie sehnte sich nach ihrer kleinen Lichtung, doch die war unter Schneebergen begraben.
Hannah stand mit dem Rücken zu Samantha und schnipselte Karotten in einen Topf. »Und warum mußtest du denn nun eigentlich hinter dem Paravent sitzen, Samantha?«
Wieder stieg der Zorn in Samantha hoch, und sie konnte nicht gleich antworten. Der Gastdozent, der extra von außerhalb gekommen war, um einen Vortrag über die gynäkologische Untersuchung zu halten, hatte sich entrüstet geweigert, in Anwesenheit einer Frau zu sprechen. Dr. Jones hatte Samantha inständig gebeten, sich doch »nur dies eine Mal«
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