Sturmjahre
erregt atmend neben ihm stand. Er hörte die röchelnden Atemstöße der Gebärenden und fühlte ihren flatternden Puls. Er dachte an den Mann, der unten saß und betete, und er dachte an seine eigene Schwachheit und Vergänglichkeit.
Sein Blick wanderte zu dem schwarzen Köfferchen.
Vor zehn Jahren hätte es keine Möglichkeit gegeben, dem Konflikt auszuweichen; da hätte er einen der gleichermaßen schrecklichen Wege einschlagen
müssen
und hätte es mit der stoischen Ruhe getan, die er sich in langen Jahren medizinischer Praxis angeeignet hatte. Unzählige Frauen waren im Kindbett gestorben, ehe es das Chloroform gegeben hatte. Jetzt aber, an diesem Tag, gab es eine einfache, lebensrettende Lösung, die ihn von der bedrückenden Last der grausamen Entscheidung befreien konnte. Wenige Tropfen des Wundermittels genügten, und beide, Mutter wie Kind, konnten leben …
Kurzentschlossen griff Neville Stone in sein Köfferchen und entnahm ihm eine Flasche. Während sich die Hebamme näher zu ihm neigte, zog er ein Taschentuch heraus und rollte es zu Trichterform.
»Sie nehmen das Chloroform, Sir?« flüsterte die Hebamme, als er die Flasche aufschraubte.
Er nickte entschlossen. Dann stieg er vom Bett und trat neben die stöhnende Frau. Behutsam legte er das breite Ende des trichterförmig gerollten Taschentuchs über Mund und Nase seiner Patientin und gab einige Tropfen Chloroform darauf.
»Und wie wirkt das?« flüsterte die Hebamme fasziniert, während ein ekelhaft süßlicher Geruch sich im Zimmer ausbreitete.
»Die Flüssigkeit verdampft schon bei Körpertemperatur, und wenn Mrs. Hargrave die Dämpfe einatmet, fällt sie in einen tiefen Schlaf.«
»Und wie nennt man so was?«
Neville Stones Stimme war sanft und beruhigend. Seine Worte galten mehr der Beschwichtigung der Patientin als der Belehrung
der Hebamme.
»Vor vier Jahren lieferte uns ein Amerikaner namens Oliver Wendell Holmes das Wort, das wir brauchten, um diesen Tiefschlaf zu beschreiben. Er nannte es
Anästhesie
.«
{24} »Ach, ein Yankee?« Mrs. Cadwallader schniefte mit einiger Geringschätzung. »Also, ich weiß nicht, Sir –«
»Pst!« Er richtete sich auf, ohne das Taschentuch von Felicitys Gesicht zu nehmen. »Sie schläft jetzt ein. Sobald sie tief schläft, hole ich das Kind.«
Der Schweiß fiel in schweren Tropfen von seiner Stirn auf die Tischplatte; seine Hände waren so fest ineinander gekrampft, daß sie zitterten. Mit aller Kraft und Konzentration, die ihm zu Gebote standen, mühte er sich, alles körperliche Empfinden hinter sich zu lassen, um einzig als geistiges Wesen zu existieren. Er spürte nicht das harte Holz des Stuhls auf dem er saß; er dachte nicht an den kleinen Jungen, der unter dem Tisch hockte und die Hand auf sein blutendes Ohr drückte; er nahm nicht einmal wahr, daß oben im Schlafzimmer plötzlich alle Geräusche verstummt waren. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Zwiesprache mit dem Herrn.
Doch Samuels Konzentration war nicht so stark wie sein Wille. Immer wieder schweiften seine Gedanken vom Gebet ab: wie schwierig würde es sein, noch ein drittes Kind durchzubringen; wo sollte er eine vertrauenswürdige Haushälterin finden, die während Felicitys Rekonvaleszenz die Familie versorgen konnte; woher sollte er das Geld für die Grundsteuer auf das Haus nehmen, die demnächst fällig war.
Er schluckte krampfhaft. Das Undenkbare: Wenn Felicity sterben sollte …
Er schluchzte laut auf und brach plötzlich über dem Tisch zusammen. Die Arme seitlich ausgestreckt wie der Gekreuzigte, eine Wange auf die Tischplatte gedrückt, die Augen geschlossen, blieb er liegen. Seine Gedanken schweiften in alle Richtungen. Er ließ sie fliehen, zu schwach, sie weiter in Fesseln zu halten. Sie flogen, kaum verwunderlich, direkt zum Ursprung seiner Qual. Er hatte sich dagegen gewehrt, der unerträglichen Wahrheit ins Auge zu sehen. Er hatte sich, das war ihm wohl bewußt, weniger um Felicitys Rettung als um seines eigenen Seelenheils willen ins Gebet gestürzt. Das, was er jetzt klar und deutlich sah, war die nackte, unausweichliche Tatsache, daß er, Samuel Hargrave, allein die Schuld trug an dieser Unglücksnacht.
Er versuchte jetzt nicht mehr, vor der Wahrheit davonzulaufen. Er stellte sich der Erinnerung an jene Nacht vor neun Monaten, durch die er sich und Felicity zu dieser heutigen Nacht, die die Hölle war, verdammt hatte.
Niemals hatte Samuel in den Jahren, seit er ein Mann geworden war, Lust
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