Sturmjahre
Schürze und zog sich einen Stuhl heran. »Ich bin ganz erledigt. Ich muß mich ein bißchen setzen.«
»Geht es dir nicht gut, Hannah?«
Hannah antwortete nicht. Sie nahm die Teekanne, schenkte sich ein und gab zwei Löffel Honig in ihre Tasse. Sie umfaßte die Tasse mit beiden Händen, als müsse sie sich wärmen, obwohl ihr Gesicht rot und erhitzt aussah.
Samantha musterte sie aufmerksam. »Ich glaube, du solltest ein Stärkungsmittel nehmen, Hannah. Manche Menschen leiden im Winter an Blutarmut.«
»Vielleicht hast du recht.« Müde stand Hannah auf, ging zum Schrank und nahm eine Flasche von Seans irischem Whiskey heraus. Wieder am Tisch sitzend, entkorkte sie die Flasche und gab einen Schuß von dem Whiskey in ihren Tee. Dann hielt sie die Flasche hoch und sah Samantha fragend an.
In diesem Moment sah Samantha etwas im Blick ihrer Freundin, was sie schon einmal gesehen hatte, bei einer Patientin, die Dr. Page seinen Studenten mit der Erklärung vorgestellt hatte, daß sie Krebs habe. Genau dieser Blick war es gewesen, der ihr an der Frau aufgefallen war – ein Flackern schwarzer Trostlosigkeit, als gäbe sie ihre Seele rettungslos ver {182} loren. Aber dann war er schon verschwunden, und nur noch Müdigkeit spiegelte sich in Hannahs Augen.
»Ach ja, danke, Hannah«, sagte Samantha. »Ich kann auch eine kleine Stärkung gebrauchen.«
Eine Weile saßen sie schweigend beieinander. Vom Herd her kamen die blubbernden Geräusche des leise kochenden Eintopfs. Hin und wieder löste sich ein Schneebrett vom Dach und fiel mit dumpfem Krachen zu Boden. Je länger das Schweigen dauerte, desto spürbarer wurde für Samantha, daß etwas nicht in Ordnung war.
»Ich muß mit dir reden«, sagte Hannah schließlich. »Du kennst doch den neuen –« Hannah hob ihre Teetasse und begann, die Untertasse hin und her zu drehen – »den neuen Verkäufer in Kendalls Laden?«
Samantha kannte ihn. Niemand wußte viel über ihn. Er war eines Tages im Oktober in Lucerne aufgetaucht, und Mr. Kendall hatte ihm für einen Tag Arbeit gegeben, damit er sich sein Abendessen und das Geld für die Übernachtung verdienen konnte. Der Mann hatte sich als so anstellig, tüchtig und zuvorkommend erwiesen, daß Mr. Kendall ihn behalten hatte. Samantha wußte nur, daß er Oliver hieß und daß die Art und Weise, wie er sie anzusehen pflegte, wenn Mr. Kendall nicht im Laden war, ihr höchst unangenehm war.
»Was ist mit ihm, Hannah?«
»Ja, weißt du …« Unaufhörlich drehte sich die Untertasse auf dem blanken Holztisch. »Ich glaube, er verguckte sich ein bißchen in mich. Er war immer sehr freundlich zu mir und hat mir auch mal ein Stück Stoff ein bißchen billiger gelassen. Du weißt ja, wie knickrig Mr. Kendall sein kann. Aber wenn er nicht im Laden ist, macht Oliver mir immer einen guten Preis. Er hat mir sogar die Pakete nach Hause getragen, und ich hab’ ihn auf eine Tasse Tee eingeladen.«
Samantha hielt den Blick auf die kreisende Untertasse gerichtet.
»Na ja, und an dem Nachmittag, als du deine Examen hattest …«
Das war Ende November gewesen. Samantha war so müde und mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, daß ihr Hannahs ungewöhnliches Schweigen beim Abendessen gar nicht aufgefallen war. Jetzt, in der Rückschau, sah sie es plötzlich.
Die Untertasse stand still. Klirrend landete die Tasse auf ihr.
»Er ist den ganzen Nachmittag geblieben.« Samantha spürte körperlich Hannahs abgrundtiefe Scham. »Und es war nicht das einzige Mal.«
Samantha sah auf. Hannahs Augen waren weit geöffnet und sehr klar. Ihre Stimme klang, als sei sie dem Weinen nahe, aber es kam keine Träne.
{183} »Ich hab’ Angst, Samantha.«
»Daß Sean dahinterkommt? Aber wie sollte er denn?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Nein. Ich war so vorsichtig, daß kein Mensch was gemerkt hat. Sean würde es nie erfahren.«
»Ist es aus?«
»O ja. Es dauerte ganze zwei Wochen, dann machte ich Schluß.«
»Wovor hast du dann Angst?«
»Ich bin schwanger.«
Samantha starrte sie an. »Bist du sicher? Warst du beim Arzt?«
»Ich brauch’ keinen Arzt. Ich weiß selber, was es zu bedeuten hat, wenn meine Tage ausbleiben und mir morgens hundeübel ist und mir die Knöchel anschwellen wie verrückt.«
»Ach, Hannah …«
Hannah straffte die Schultern. »Ich erzähl’ dir das alles, Samantha, weil ich deine Hilfe brauche.«
»Was kann ich denn da tun?«
»Du mußt es mir wegmachen.«
Samantha zuckte zusammen, als wäre sie
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