Sturmkönige 01 - Dschinnland
solange er sie nicht mochte. Selbst Sabatea hatte er benutzt. Oder war es umgekehrt gewesen?
Konnte es noch schlimmer kommen?
Insgeheim kannte er die Antwort darauf.
Tarik war klar, was Junis antrieb. Nur vordergründig ging es ihm um den Auftrag der Drachenhaarhändler. Selbst Sabateas Bemühungen, ihn zu umgarnen, waren nicht mehr als angenehmes Beiwerk.
Junis wollte etwas beweisen. Sich selbst – und Tarik?
Er lachte leise in seinen Weinkrug. Im Menschenpulk vor dem Fenster wandten sich ihm zwei Köpfe zu. In ihren Blicken las er, was sie dachten. Es hätte ihn kaltgelassen, hätten sie ihn nicht an den Ausdruck in Junis’ Augen erinnert. An das, was hinter der Maske aus Verachtung und Schuldzuweisungen lag. Mitleid. Besorgnis. Etwas, das er sich vielleicht nur einbildete. Oder das er aus Erinnerungen an ihre Kindheit fischte, als sie gemeinsam auf dem Dach ihres Hauses gestanden und nach Westen geblickt hatten, angstvoll und abwartend. Zusammen hatten sie in den Sonnenuntergang geblinzelt, die beste Zeit für einen Teppichreiter, um aus dem Dschinnland heimzukehren, geradewegs aus der Wüstensonne, wenn sich die Wachtposten auf den Wällen geblendet nach Osten abwandten. Oft hatten sie beide so dagestanden und der Rückkehr ihres Vaters aus Bagdad entgegengefiebert. Noch als sie älter wurden, hatte ihre Mutter sie hier oben finden können – auch an jenen Abenden, an denen sie vergeblich warteten. Kein einsamer Reiter, der auf den letzten Sonnenstrahlen heranglitt. Kein vollbeladener Teppich, der im grellen Gegenlicht Kontur annahm.
Viel später, an einem Abend vor sechs Jahren, hatte er Junis allein dort oben stehen sehen, die Augen mit einer Hand beschattet, als Tarik nach Samarkand zurückgekehrt war. Warum sein Bruder dort gestanden hatte? Und wie er hatte ahnen können, dass Tarik und Maryam es nicht bis Bagdad schaffen würden, obwohl Tarik die Strecke doch so viele Male zuvor bewältigt hatte? Tarik hatte ihm diese Fragen nie gestellt. Aber heute kannte er die Antwort. Junis hatte es gefühlt. Auf dieselbe Weise, die Tarik heute fürchten ließ, dass Junis und Sabatea nie ans Ziel ihrer Reise gelangen würden.
Der Lärm der Menge vor dem Fenster schwoll an, als die Spitze der Karawane näher kam. Gerüstete Reiter auf Rössern, gefolgt von Kriegern auf Kamelen. Sie eskortierten die sechs Pferdegespanne, die Tarik auf dem Hof des Palastes gesehen hatte. Auf dem Teppich mit Sabatea. Seine Lippen noch salzig von ihrer Haut. Ihre Faust an seine Brust gepresst, als wollte sie sein Herz darin festhalten.
Zwischen den Köpfen und winkenden Armen erhaschte er einen Blick auf ein Wagenfenster. Gitterstäbe, auf denen jetzt die ersten Sonnenstrahlen blitzten. Das helle Oval eines fremden Gesichts, jünger und zarter als das Sabateas. Die traurigen Augen einer Todgeweihten.
»Du solltest es tun«, flüsterte eine Silberschlange im Staub vor dem Fenster. »Folge ihnen. Reite hinaus ins Dschinnland. Das ist guter Rat, der beste.«
Als die Nachhut die Taverne passierte, war Tariks Platz leer. Ein halbvoller Weinkrug stand im Fensterrahmen. Eines der Tanzmädchen lachte und ließ die Glöckchen am Fußgelenk kreisen.
Später, auf einem Dach nicht weit entfernt, rollte Tarik den Teppich seines Vaters aus und trat zurück in die Vergangenheit.
Der Wall
Mit den Erinnerungen hatte er gerechnet. Mit Maryams Gesicht und ihrer Stimme, die klang wie damals, als sie Samarkand verlassen hatten. Mit schmerzhaften Eindrücken ihrer Euphorie und Erleichterung, als die abgeriegelte Stadt in ihrem Rücken zurückgeblieben war. Und mit dem Verlust, dem Gewicht seiner Schuld, als er Tage später allein zurückgekehrt war.
Was er nicht erwartet hatte, war die Erleichterung.
Seit langer Zeit war er nicht mehr am helllichten Tag aufgestiegen. Das Risiko, entdeckt zu werden, war groß, erst recht an einem Festtag wie diesem. Doch nun sah er Samarkand unter sich kleiner werden, die Häuser mit ihren winzigen Fenstern, die beengten Gassen, die staubigen Plätze und die gesichtslose Masse – nichts von all dem würde er vermissen. Es war ein Unterschied, die Stadt als nächtliches Fackelmeer oder aber im glosenden Sonnenschein Khorasans unter sich zu sehen. Bei Nacht war Samarkand eine Kulisse für die Rennen, ein Spielplatz für die halsbrecherischen Ambitionen der Teppichreiter. Am Tag aber stand es für alles, das er mit Freuden zurückließ, ein Monument seiner Fehler und falschen Entscheidungen.
Damals hatte
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