Sturmkönige 01 - Dschinnland
er nicht begreifen können, warum Maryam darauf gebrannt hatte, die Stadt zu verlassen. Heute aber begann er sie zu verstehen. Sie hatte schon damals, mit gerade einmal neunzehn, erkannt, dass Samarkand ein Gefängnis war. Mit Wällen, die nur auf den ersten Blick dazu dienten, die Dschinnbedrohung abzuwehren. Die vor allem aber das Volk einsperrten und es der Willkür des Emirs auslieferten.
Er gab dem Teppich Befehl, bis zur größtmöglichen Höhe aufzusteigen. Hundertfünfzig Meter über dem Boden erzitterte das Gewebe nicht mehr allein von den Aufwinden. Den Teppich noch höher zu jagen wäre Selbstmord gewesen. Weiter oben würde er an Festigkeit verlieren und seinen Reiter in den Tod stürzen. Die hundertfünfzig Meter brachten Tarik nicht aus der Reichweite der Bogenschützen, aber er bezweifelte, dass die Treffsicherheit der Soldaten ausreichte, um einem beweglichen Ziel in dieser Höhe gefährlich zu werden.
Aus dem uralten Gassenlabyrinth der Stadt stieg Stimmengewirr herauf, getragen von den Winden, die aus dem Dschinnland über die Mauern wehten. Tariks Blick verharrte kurz auf den blauen und türkisfarbenen Kuppeln des Palastes, folgte dann dem Menschengewimmel zwischen den Häusern. Samarkand war schon unter Alexander dem Großen eine bedeutende Stadt gewesen. Selbst heute noch war seine Ausdehnung beeindruckend. Aus einem Handelsposten in einer grünen Flussoase, eingefasst von braunen Bergketten im Norden und Osten, hatte sich Samarkand über mehr als tausend Jahre zu einer der reichsten Städte des Orients entwickelt. Aus der Luft betrachtet, besaß es noch immer seine alte Pracht. Der Reichtum war geschwunden, seit die Dschinne die Wüsten beherrschten, und Kahramans Herrschaft hatte den Menschen die Freiheit genommen; doch Samarkand war wie ein Lied, das nicht verklingen wollte. Solange seine Mauern standen, würde sein Herz weiterschlagen, ungeachtet aller Dschinne und Despoten.
Die Karawane war durch das Stadttor im Westen gezogen. Dem Zug aus Pferden, Kamelen und Gespannen folgte ein Schweif aus staubigem Dunst. Vom Tor aus mussten sie den breiten Ring aus bewässerten Feldern und Hainen durchqueren. Kaum sichtbar am Horizont, jenseits des Grüns, erhob sich der Wall, der die Menschen von der Barbarei der Dschinne trennte.
Er behielt die Zinnen der Stadtmauer im Auge, als er darüber hinwegraste. Längst waren die Soldaten dort unten auf ihn aufmerksam geworden. Einige zeigten mit ausgestreckten Armen auf ihn, ein paar legten mit den Bogen an. Er beugte sich tiefer über den Teppich, zog den Kopf ein und musste auf sein Glück vertrauen. Im gleißenden Sonnenschein und der Weite des Himmels war es so gut wie unmöglich, die Geschosse im Auge zu behalten. Zwei Pfeile sah er in ein paar Schritt Entfernung an sich vorübersausen. Nah genug, um ihn an seiner verfrühten Zuversicht zweifeln zu lassen. Ein dritter durchschlug die Fransen an der Vorderkante. Tarik spürte den Luftzug, als der Pfeil knapp an ihm vorbeischoss.
Seine Hand im Muster gab dem Teppich Befehl, einen unsteten Kurs zu fliegen, bis er die Mauer hinter sich gelassen hatte. Draußen auf den Feldern gab es Patrouillen, aber sie waren zu verstreut, um ihm gefährlich zu werden. Kritischer wurde es am Wall, wo ein Vielfaches an Soldaten die Grenze zum Dschinnland bewachte. Die Männer dort draußen waren gelangweilt von der Eintönigkeit ihres Dienstes, vom Blick auf die endlose Wüste jenseits des Walls. Sie würden sich einen Spaß daraus machen, einen einzelnen Teppichreiter vom Himmel zu holen. Was, in aller Teufel Namen, hatte seinen Bruder nur dazu bewogen, bei Tageslicht aufzubrechen?
Während Tarik hoch über Reisfeldern und Maulbeerhainen schwebte, kam ihm der Gedanke, dass ihm Junis womöglich einen Schritt voraus war. Ihr Vater hatte sie gelehrt, dass es zwei Wege gab, den Wall unversehrt zu überqueren. Der erste und üblichste war, bei Nacht und oberhalb des Fackelscheins zu fliegen; allerdings brachte das den Nachteil mit sich, dass man bei Dunkelheit ins Dschinnland vorstieß und nicht sehen konnte, was einen dort erwartete.
Die zweite Möglichkeit kostete Geld. Tarik selbst hatte zweimal einen Trupp Wachtposten bestochen, die auf dem Wall ihren Dienst versahen. Heikel wurde es, wenn einem Befehlshaber einfiel, die Wachabfolge zu ändern – was nicht selten vorkam. Auch hatte die Verlässlichkeit bestochener Soldaten ihre Grenzen; manch einem kam die Idee, die Goldstücke und eine Belobigung zu kassieren.
Weitere Kostenlose Bücher