Sturmkönige 01 - Dschinnland
glaubte nicht daran. Die Dschinne waren keine Menschen, und nichts, das sie in all den Jahren getan hatten, ließ darauf schließen, dass sie Interesse an einem solchen Bündnis haben könnten. Zu welchem Preis? Aus welchen Motiven? Es ergab keinen Sinn. Kahraman war außer sich gewesen, als ihm das Gerede zu Ohren gekommen war. Tagelang hatten die Stadtmauern von den Schreien jener widergehallt, die zu Tode gefoltert wurden. Keine Hinrichtungsart zeigte mehr Wirkung beim Volk als die Mauerhaken, aufwärts gebogene Eisenkrallen auf halber Höhe der Stadtmauer; die Unglücklichen wurden von den Zinnen in die Haken geworfen, wo sie oft tagelang litten, ehe sie endlich verstummten.
Jenseits des Walls öffnete sich die Weite Khorasans als braungelber Horizont, eine versteppte Leere, in der knorrige Felstürme Schlagschatten warfen. Tariks Kehlkopf schien anzuschwellen, als er hinaus in diese Ödnis blickte. Er hatte das Dschinnland immer respektiert – und nur deshalb hatte er dort überleben können –, doch damals waren die Gründe andere gewesen. Greifbarer. Die Geister, die er heute fürchtete, spießten keine Schädel auf Pfähle, sie zerfleischten keine Menschen.
Die Bogenattacken erreichten ihren Höhepunkt. Gleich drei Geschosse bohrten sich von unten durch den Teppich. Zwei blieben stecken. Das Muster rumorte und tobte, drohte sich seinem Zugriff zu entziehen. Er musste die rechte Hand mit hineinschieben, um die Macht über den Teppich zu behalten. Seine Finger zupften und pressten die Stränge wie Saiten eines Musikinstruments, während sein Blick starr auf die Einöde jenseits des Walls gerichtet blieb. Er versuchte, noch höher zu steigen und schnellere Manöver zu fliegen. Aber beides hielt ihn nur auf und barg die Gefahr, gänzlich die Kontrolle zu verlieren.
Zuletzt schloss er die Augen, versenkte seinen Geist tief ins Muster und jagte den Teppich in schnurgerader Bahn durch den Pfeilhagel.
Ein Geschoss streifte ihn, als er schon glaubte, er sei in Sicherheit. Der Wall lag hinter ihm. Vereinzelte Pfeile schnitten durch den Himmel, doch die meisten Schützen hatten aufgegeben. Die Spitze, die ihn erwischte, riss sein Wams an der linken Schulter auf und fräste eine Spur in seine Haut. Es dauerte einige Herzschläge, ehe sich die Wunde mit Blut füllte. Er presste die rechte Hand darauf und befahl dem Muster, starr geradeaus zu fliegen, den bizarren Felsformationen im Westen entgegen.
Er schaute zurück. Viele Soldaten auf dem Wall, die ihm nachblickten – aber keine neuen Pfeile mehr. Endlich außer Reichweite. Und niemand, der ihm folgte. Hier draußen gab es genug andere, die ihnen die schmutzige Arbeit abnehmen würden. Kreaturen, die mit den Dschinnen aufgetaucht waren. Andere, die vielleicht lange vorher da gewesen, sich aber niemals offen gezeigt hatten.
Und den Narbennarren.
Er schüttelte die Erinnerung ab. Vorsichtig zog er die Hand aus dem Muster. Der Teppich hielt den Kurs nach Westen, auch dann noch, als Tarik die beiden Pfeile aus dem Gewebe zog. Die sanften Erschütterungen, mit denen der Teppich seinen Schmerz bekundete, waren kaum zu spüren.
Bevor er seine Wunde versorgte, schaute er sich aufmerksam um. Unter ihm war nichts als verstepptes Schwemmland, einst fruchtbar, heute ein Vorbote der Karakumwüste weiter im Westen. Graubraune Hügel lagen im Norden und Süden hinter dem Horizont, während die Landschaft davor vorüberzog. So als sei die Welt in zwei Schichten geteilt, eine wahrhaftige, die die Bewegung des Teppichs nachvollzog, und eine andere, die von all dem unberührt blieb. Die Ewigkeit war hier greifbarer als hinter den Mauern Samarkands. Stillstand in einer Stadt war beunruhigend und unangenehm. Hier draußen war er eine vertraute Konstante.
Warme Winde fegten über das Ödland und brachten die klare Luft der Leere mit sich. Tarik hatte sie vermisst, trotz allem, was geschehen war. Die Erinnerungen bedrängten ihn – Maryams Gesicht, das Gelächter des Narbennarren –, aber sie wogen noch nicht das Gefühl von Freiheit auf, das mit dieser Landschaft einherging. Mit der Weite, mit dem Fehlen menschlichen Lebens.
Er löste sein Bündel vom Rücken und zog es auf seinen Schoß. In der kurzen Zeit hatte er nicht alles beschaffen können, das für eine Reise wie diese nötig war. Aber er hatte noch immer seine alte Sanduhr – zwei Stunden vom ersten bis zum letzten Korn –, und sie war das Wichtigste. Seine Vorräte würden nicht bis Bagdad reichen, aber
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