Sturmkönige 01 - Dschinnland
Nur nicht so sehr, wie sie ihn hatte glauben lassen. Er war zu jähzornig. Zu stur. Er ahnte gar nicht, wie ähnlich ihn das seinem Bruder machte.
Sie konnte noch immer nicht abschätzen, wie hoch sie flogen. Fünfzig Schritt vielleicht. Das zerfurchte Land war durchzogen von Schatten. Niedrige Erhebungen glommen im Abendrot. Sie waren seit dem Morgen unterwegs, seit Junis mit ihren Dinaren die Sanduhr und die Verpflegung bezahlt hatte. Ihre Knie schmerzten. Zeitweise hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihre Beine abgestorben waren. Es gab kaum Möglichkeiten, auf dem beengten Teppich die Position zu ändern. Es kam ihr vor, als kniete sie seit einer Ewigkeit hinter Junis und hielt sich an ihm fest.
Genau wie er trug sie einen Tornister aus Korb auf dem Rücken, in dem Nahrung und andere Ausrüstung untergebracht waren. Junis hatte sich den länglichen Ballen aus Drachenhaar um die Hüften gewickelt, unterhalb des Korbes. Die Kostbarkeit aus dem alten China war in weiches Leder eingeschlagen. Der Ballen war nicht groß, kaum breiter und nicht länger als ihr Oberschenkel. Junis hatte gesagt, das Haar darin reiche aus, um zwanzig Teppiche zum Fliegen zu bringen. Nur wenige Strähnen mussten in das Muster geknüpft werden, um die Magie zu entfachen.
Statt des Kleides vom Vortag trug Sabatea weiße Pluderhosen und ein kurzes helles Hemd, das vor der Brust eng geschnürt war. Junis’ Kleidung war schwarz, wahrscheinlich dieselben Sachen, die er beim Rennen gegen Tarik getragen hatte; an einigen Stellen hatte er Ärmel und Hose grob geflickt. Im Umgang mit Nadel und Faden konnte er noch einiges lernen. Nicht von ihr, fürchtete sie.
Vor ihnen erhob sich ein unversehrtes Teilstück der Alten Bastion. Eine schwarze Silhouette vor dem lodernd goldenen Horizont. Der Teppich behielt noch immer dieselbe Höhe bei. Sie würden die Mauer nur ein kleines Stück oberhalb des zerklüfteten Wehrganges überqueren. Das titanische Bauwerk war mindestens doppelt so hoch wie die Wallanlage vor den Toren Samarkands. Vierzig Meter, schätzte sie. Vielleicht höher. Ganz sicher war es älter als die Bedrohung durch die Dschinne. Vermutlich war die Bastion errichtet worden, als die Armeen des Kalifats vor hundertfünfzig Jahren ihre Eroberungsfeldzüge nach Osten ausgedehnt hatten. Damals waren Städte wie Samarkand und Buchara an den Herrscher von Bagdad gefallen. Ihre Reichtümer hatte man in endlosen Karawanen über die Seidenstraße nach Westen verschleppt.
Je näher sie der Bastion kamen, desto vorzeitlicher erschien sie Sabatea. Wüstenwind und Hitze mochten das verfallene Bauwerk während der vergangenen vierzig Jahre mürbe gemacht haben. Aber wenn ihr jemand erklärt hätte, dass der riesenhafte Wall schon vor vielen Jahrhunderten hier gestanden hatte, schon zu Zeiten des großen Mazedoniers, dann hätte sie das kaum verwundert.
Sie waren noch einen guten Pfeilschuss von den Ruinen entfernt, als Sabatea im dämmerigen Abendglühen etwas entdeckte. Mit dem Kinn stieß sie gegen Junis’ linke Schulter. »Da vorn!«
Ein Augenblick verging. Dann nickte er wortlos.
»Fliegen wir näher ran?«, fragte sie.
»Ich kann’s versuchen.«
Er verlangsamte die Geschwindigkeit des Teppichs und schwenkte nach links. Was Sabatea gesehen hatte, befand sich nun genau vor ihnen. Sie hielt den Atem an. Blinzelte, um ganz sicher zu sein, dass sie nicht träumte. Dass sie nicht Opfer einer der berüchtigten Illusionen des Dschinnlandes wurde.
Eine Herde wilder Elfenbeinpferde stand oben auf dem breiten Wehrgang des Walls und graste im Abendrot. Die schneeweißen majestätischen Rösser waren größer als gewöhnliche Pferde und wirkten dennoch graziler, fast filigran. Ihre Mähnen wehten im Wind aus der Karakum. Solange die gefiederten Schwingen angelegt an den Flanken ruhten, fielen sie kaum auf. Erst recht nicht im Schein der untergehenden Sonne, gerastert von den Schatten halbzerfallener Zinnen. Ihre Gelenke waren im Vergleich zu den schlanken Gliedern sehr breit, beinahe ein wenig klobig. Sie trugen dort Gewinde und Scharniere wie ihre Vorfahren, die einst von Menschenhand geschaffen worden waren. Niemals sah man Fohlen oder Jungtiere. Viele glaubten gar, dass sich die Elfenbeinpferde in Wahrheit nie fortgepflanzt hatten, sondern dass die wenigen, die man heute noch sah, schon seit Jahrhunderten existierten. Seit, so erzählte man sich, ein Magier sie erschaffen hatte, um damit einen Sultan im fernen Basra zu erfreuen.
Sabatea zählte
Weitere Kostenlose Bücher