Sturms Flug
östlichen Horizont allmählich breiter wurde. Er betrachtete sie aus dem Augenwinkel und war glücklich. Und dann manifestierte sich eine vollkommen abstruse, wahnwitzige, geradezu irrsinnige Idee in seinem Hirn. Ja, dieser Einfall war idiotisch, aber er konnte ihn nicht verdrängen.
Ich werde ihr einen Heiratsantrag machen , dachte er.
Es war grotesk.
Nacheinander wurden vier Servierwagen hereingerollt, aber nicht von einem Kellner, sondern von einem JVA -Beamten in Uniform. Der Ort des Geschehens war ein ehemaliger Aufenthaltsraum des Untersuchungstraktes mit der Nummer 032. Jetzt fungierte er als Zelle.
Die Servierwagen waren beladen mit mindestens einem Dutzend messingfarbener Warmhalteglocken sowie mit feinstem Essgeschirr aus Porzellan, außerdem mit edler Tischwäsche und mit einem Sammelsurium von Gabeln, Messern und Löffeln, die offenbar allesamt aus echtem Silber bestanden und für eine Vielzahl verschiedener Gänge bestimmt waren. Daneben drängten sich nicht weniger als fünf Weinkühler, aus denen die Hälse schlanker Flaschen hervorlugten. Eine Vase, die eine verlorene Chrysantheme beherbergte, diente als einziger Tischschmuck.
»Es ist 20 Uhr 20, mein Freund!«, tadelte der Häftling. »Ich hoffe, dass Sie nicht wieder so lange getrödelt haben wie gestern. Kaltes Essen ist mir nämlich zuwider, besonders wenn es mich ein Vermögen gekostet hat.«
»Na und?«, grollte der Beamte namens Schmitz alias Rinderhälfte alias Hälfte. »Das hier ist weder ein verdammtes Sanatorium noch ein Restaurant. Und Ihr Freund bin ich erst recht nicht.«
Der Häftling achtete nicht auf den unfreundlichen Protest, sondern grinste wölfisch, dann wandte er sich den Servierwagen zu und lupfte die Deckel der Warmhalteglocken, um die darunter befindlichen Köstlichkeiten zu begutachten. Der Wohlgeruch, der aufstieg und sich in der Zelle verbreitete, ließ dem Beamten das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Bretonische Seezunge als Amuse-Bouche«, verkündete der Gefangene vollmundig. »Außerdem Jakobsmuscheln und Langustine auf Couscous in einem Nage aus Curry und Kokosnuss, eine Mousse vom Reh mit Portweingelee, geschmorte Rehschulter, Wolfsbarsch auf einem Püree von Palbohnen, speckumwickelte Rosmarinkartoffeln … Und was haben wir hier? Ah, Filet vom Kalb mit Bries und Stopfleber, dazu Schwarzwurzeln, Rosenkohl … Und das hier sieht aus wie Rauchspeck.« Seine Stimmlage wurde feierlich. »Ich liebe das, sieben Gänge vom Sternekoch, was kann es Schöneres geben! Außer einer drallen Achtzehnjährigen natürlich.« Er nahm die Rechnung zur Hand, die stilecht in einem Kuvert auf einem roten Samtkissen steckte. »Einhundertneunundsiebzig Euro für das Essen und vierhundertachtzig für den Wein«, murmelte er. »Mon Dieu!«
Dann nahm er eine Flasche aus einem Kühler und wandte sich wieder dem JVA -Beamten zu. »Chateau Mouton Rothschild 1er Grand Cru Classe Pauillac. Ein Tröpfchen, so edel wie Engelspipi. Normalerweise liefert das La Vision nicht außer Haus, aber ich habe eine gute Connection, die selbst das Unmögliche möglich macht. Für einen weiteren Hunderter, versteht sich. Würden Sie bitte dafür sorgen, dass mein Anwalt die Rechnung erhält?«
Ohne die Antwort abzuwarten, begann er, die Speisen von den Servierwagen auf den Tisch zu räumen, der unter dem vergitterten Fensterchen stand. Als das erledigt war, legte er ein einzelnes Gedeck auf und entkorkte den Chateau Mouton.
»Auch ein Gläschen?«, fragte er seinen Bewacher, um eine Sekunde später höhnisch hinzuzufügen: »Ich vergaß, Sie sind im Dienst. Zu dumm. Nun, dann dürfen Sie sich jetzt zurückziehen. Und halten Sie sich bereit, morgen brauche ich Sie wieder.« Er machte eine Handbewegung, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen.
Es war Rinderhälfte anzusehen, dass er dem hochnäsigen Hundesohn am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Zu dumm, dass er ihm ausgeliefert war und den Grund dafür selbst verschuldete. »Treiben Sie es nicht zu bunt!«, warnte er dennoch mit ausgestrecktem Zeigefinger und in beeindruckender Lautstärke. Sein Bass hallte draußen auf dem Korridor wider. »Ich bin nicht Ihr Lakai.«
»Genehmigt«, sagte der Häftling in liebenswürdigem Tonfall. »Und regen Sie sich bitte nicht auf, das ist schlecht für Ihren Blutdruck, mein Lieber.«
»Und noch weniger bin ich Ihr Lieber!«
Der Angesprochene, der mittlerweile Platz genommen und eine Seidenserviette in den Ausschnitt seines Hemdes gestopft hatte,
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