Sturms Flug
das Foto kurz nach dem Fall der Mauer entstanden.
Wie alle anderen Aufnahmen auch war es gerahmt und mit einer kleinen Messingplakette versehen, auf der sich eine Gravur befand. Diese gab Auskunft darüber, dass die Aufnahme im November 1989 in Berlin entstanden war. Das Foto daneben war drei Monate jünger, vom Februar 1990, aufgenommen in der Schweiz während eines Hundeschlittenrennens. Auf dem nächsten Bild war Frau Sturm in Schottland zu sehen, vor der beeindruckenden Kulisse des Schlosses von Edinburgh, und ein weiteres Foto zeigte sie an Deck eines Segelbootes bei einem Törn über das Ijsselmeer.
Sie muss ein Vermögen für Urlaube ausgeben, war sein erster Gedanke.
Doch dann fiel ihm auf, dass die meisten Plaketten neben den Orts- und Datumsangaben mit einem Zusatz versehen waren, der entweder lautete » Aufgenommen während der Rucksacktour durch … « oder » Aufgenommen während der Motorradtour durch …« , und dahinter schloss sich der Name der jeweiligen Region an. Demnach hatte sie mit dem Motorrad Andalusien bereist, die Normandie, die Algarve, die Isle of Man, aber auch bizarre Gegenden wie Masuren, Siebenbürgen, Nordjylland, Pirkanmaa oder Thrakien. Kurzum: Landstriche, von denen die meisten Normalbürger noch nie gehört hatten, geschweige denn sie besucht.
Bodo Lohmann, der bis vor einer Minute der festen Überzeugung gewesen war, sich in Geografie gut auszukennen, zückte sein Handy, um eine Internetverbindung herzustellen. Zwei Dutzend Tastendrücke später wusste er, dass Nordjylland auf Deutsch Nordjütland hieß und in Dänemark lag, Pirkanmaa in Finnland und Thrakien in Bulgarien.
Alles nicht halb so weit entfernt, wie man zunächst denkt , sinnierte er. Dafür jedoch zum Teil sehr, sehr ungewöhnliche Orte für einen Urlaub. Passend zum ungewöhnlichsten Menschen, den ich je getroffen habe.
Und bevor dieser Mensch mit dem Motorrad herumgereist war, hatte es ihn als Rucksacktouristen in den Süden verschlagen, etwa in die Provence, nach Apulien, Kalabrien oder die Emilia-Romagna. Das musste jedoch alles schon ziemlich lange her sein, da Frau Sturm auf den Rucksackfotos höchstens Anfang zwanzig war. Wie es schien, war sie schon in jungen Jahren vom Fernweh getrieben worden.
Dann entdeckte er ein Foto, das nicht in die Rubrik Urlaub fiel, sondern ins Familienalbum gehört hätte und sie im Brautkleid zeigte. Zum Zeitpunkt der Aufnahme musste sie rund fünfzehn Jahre jünger gewesen sein. Eine tolle Braut, doch heute sah sie sogar noch besser aus als damals. Er fragte sich, was der Grund für ihre Scheidung gewesen sein mochte, die, soweit er wusste, erst ein halbes Jahr zurücklag.
Er löste sich vom Anblick der Fotos und trat an das Panoramafenster, hinter dem sich die Dachterrasse mit dem Chrysanthemengarten befand, der im Sommer zur bunten Duftoase wurde. Momentan wirkte er ein wenig trostlos, obwohl man ihm noch immer ansah, dass eine Menge Arbeit und Hingabe in ihm steckten. Die gleiche Hingabe hätte sicherlich auch das schöne Wohnzimmer verdient, doch dessen Zustand war mit dem Wort unaufgeräumt noch vorteilhaft umschrieben.
Er schüttelte unwillig den Kopf, denn er kannte ihren Sinn für Ordnung, da in ihrem Büro ähnliche Verhältnisse herrschten wie hier. Überall lagen Bücher herum und Kleidungsstücke, und der Boden neben dem Sofa war mit Zeitschriften übersät. Auf dem Couchtisch drängten sich drei leere Vanilleeis-Dosen sowie die gleiche Anzahl benutzter Löffel. Dazwischen noch mehr Zeitschriften und unzählige lose Blätter, auf denen jemand, höchstwahrscheinlich Frau Sturm, handschriftliche Notizen gemacht hatte. An der Wand hinter der Couch lehnte ein Surfbrett.
Zögernd ließ er sich in einem Sessel nieder und griff sich wahllos eine der vielen Zeitschriften, um erstaunt festzustellen, dass es sich um eine medizinische Fachpublikation handelte. Wie es schien, beschäftigte sich diese Ausgabe mit den neuesten Forschungsergebnissen rund um das Thema Krebs.
Interessant.
Er legte das Magazin beiseite und zog wahllos ein anderes aus dem Stapel. Aha, wieder ein Fachblatt, diesmal eins aus der psychologischen Ecke. Der Aufmacher der Ausgabe lautete: Der Tod und wie er das Seelenleben beeinflusst. Neue Therapieansätze für Patienten mit letalen Erkrankungen.
Er war verblüfft und betrachtete die herumliegenden Zeitschriften und Bücher genauer, und mehr und mehr verwandelte sich sein Erstaunen in schiere Fassungslosigkeit. Was er sah, war eine regelrechte
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