Sturms Jagd
es doch aufgefallen, wenn er plötzlich zwei Kinder zu viel hat, die niemand mehr abholt. Dann hätte er sich längst bei der Polizei gemeldet, nach so langer Zeit.« Sie legte Zuversicht in ihre Stimme. »Ich nehme deshalb an, dass sich Laura ihre Trabanten unter den Arm geklemmt hat und mit ihnen an die See gefahren …«
Anne unterbrach sie. »Nein, ihre Kinder hat sie zu den Großeltern gebracht, als das Theater mit dem Ex losging. Damit sie aus der Schusslinie sind und er sich nicht an den Kleinen vergreift. Ich habe leider keine Ahnung, wo die Herrschaften wohnen, sonst hätte ich längst dort angerufen. Mir ist lediglich bekannt, dass sie ein Haus im Westerwald haben.«
»Das lässt sich rausfinden«, murmelte Mara, mehr zu sich selbst als zu ihrer Freundin. Sie überlegte kurz. »Ist es möglich, dass Laura von der Sehnsucht nach ihren Kindern gepackt wurde? Ist sie vielleicht spontan zu ihren Eltern gefahren, um die Kids zu besuchen?«
Wieder verneinte Anne. »Ihr Auto steht bei mir in der Straße, ein paar hundert Meter vom Haus entfernt auf dem Parkstreifen.«
»Was?«, entfuhr es Mara. »Und damit kommst du erst jetzt?« Ihr Tonfall war wesentlich schärfer als beabsichtigt.
»Entschuldigung, ich …«
»Ist dir an dem Wagen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Ein Schlucken war zu hören. »Ich … also … ich habe es nur im Vorbeifahren gesehen. Schien alles in Ordnung …«
»Vermisstenfall«, sagte Mara und eilte bereits in die Wohnung. Aus einer Schublade im Schlafzimmer nahm sie frische Unterwäsche. »Da muss eine Fahndung eingeleitet werden.«
Abermals schluckte Anne vernehmlich. »Eine was?«, fragte sie hörbar bedrückt. »Bist du sicher?« Der Gedanke, dafür verantwortlich zu sein, dass sich ein riesiger Polizeiapparat in Bewegung setzte, bereitete ihr Unbehagen. »Ich dachte, du könntest dich mal umhören und unverbindlich ein bisschen nachforschen?«
»Unverbindlich nachforschen reicht nicht. Zugegeben, die meisten angeblichen Vermisstenfälle entpuppen sich hinterher als Fehlalarm, aber eben nur die meisten. Wir brauchen Gewissheit.« Sie schlüpfte in ihre Jeans, was nicht ganz einfach war mit dem Telefonhörer am Ohr.
»Vermisstenfall«, wiederholte Anne bedeutungsschwer. »Wann gilt jemand denn als vermisst? Offiziell, meine ich.«
»Wenn er seinen gewohnten Lebenskreis verlassen hat und unbekannten Aufenthalts ist«, leierte Mara den Wortlaut der Polizeidienstvorschrift herunter, » und eine Gefahr für Leib oder Leben angenommen werden muss. Bei Kindern besteht diese Gefahr grundsätzlich, bei Erwachsenen hängt sie von den konkreten Umständen ab. Im Fall Laura gibt es einen eifersüchtigen Ex, der sie geschlagen und terrorisiert hat. Für mein Empfinden ist das eine ziemlich reale Gefahr, denn wer weiß, wozu der Typ fähig ist. Wir müssen ermitteln, ob er ihr vielleicht etwas angetan hat. Mach dich bitte fertig, ich komme zu dir, und dann fahren wir mit deinem Wagen ins Präsidium.«
Mara hörte sich plötzlich auf sonderbare Weise bürokratisch an, fand Anne, aber gleichzeitig auch hochprofessionell. »Und was, wenn zum Schluss alles nur falscher Alarm war?«, erkundigte sie sich. Vor ihrem geistigen Auge entstand das Bild einer Hundertschaft von Polizisten in olivgrünen Overalls, die einen Wald durchkämmte. Solche Aktionen sah man doch gelegentlich im Fernsehen.
»Wenn alles falscher Alarm war«, sagte Mara, »dann freuen wir uns für Laura. Ach so, das fällt mir noch etwas ein. Hast du ein Bild von ihr?«
»Ja, wie ich vorhin sagte, das über dem Flügel, die Orgie aus Pastellfarben.«
»Kein Gemälde, ein Foto von Laura, möglichst aktuell.«
Mara musste schmunzeln. Anne von Kalck war eine Frau mit messerscharfem Verstand und kein bisschen einfältig, doch die Ereignisse hatten sie offenbar überrollt.
»Ach so, nein, kein Foto. Ist das schlimm?«
Mara schüttelte unwillkürlich den Kopf, obwohl ihre Gesprächspartnerin das nicht sehen konnte. »Kein Beinbruch. Also bis gleich, ich bin in zwanzig Minuten bei dir.«
Als sie die Wohnung verließ, war es 0 Uhr 14, und sie hatte seit schätzungsweise hundert Jahren nicht mehr geschlafen.
Doch jetzt galt es, eine Vermisste zu finden.
Kapitel 7
Der Treffpunkt war ein Waldparkplatz neben der Bundesstraße. Man hatte ihn ausgewählt, weil man ihn im Vorbeifahren nicht einsehen konnte, erst recht nicht bei Dunkelheit, so wie zu dieser späten Stunde. Nur der Mond beleuchtete die Szenerie, spiegelte sich in
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