Sturms Jagd
perfekte Nervensäge, sondern auch eine talentierte Spürnase.
Strasser ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Himmel, hier sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Der Kleiderschrank stand offen, und beinahe sein gesamter Inhalt war auf dem Fußboden verstreut oder lag auf dem Bett. An die zehn Paar Schuhe standen herum, und falls er das richtig beurteilte, handelte es sich dabei ausschließlich um schicke Modelle und nicht um Alltägliches. Gleiches galt für die herumliegende Wäsche, Blusen und Röcke statt T-Shirts und Hosen. Normalerweise kannte er seine kleine Schwester nur in Jeans, doch wie es schien, hatte sie an diesem Abend aufwändig Modenschau gehalten, bevor sie weggegangen war.
Er grinste. Demnach hatte sie eine Verabredung, ein Rendezvous. Das war gut, da sie dann ihre Zeit nicht damit verbrachte, ein Wespennest anzustechen. Laut Wecker war es weit nach Mitternacht. Strasser entspannte sich. Er war durstig. Hoffentlich hatte die kleine Stänkerin etwas zu trinken im Kühlschrank.
Er verließ den Schlafraum, durchquerte ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer, das allerdings den Anschein vermittelte, als wäre es vor kurzem von einem Wirbelsturm heimgesucht worden, dann betrat er die Küche. Im Kühlschrank fand er weder Bier noch andere handfeste Getränke, sondern nur Apollinaris mit Zitronenaroma sowie Orangensaft. Und zwei Riesenpackungen Vanilleeis im Gefrierfach. Typisch Mara. Sie liebte Vanilleeis. Unwillig schnappte er sich eine Flasche Apollinaris und schlenderte herum, schaute hierhin, warf einen Blick dorthin.
Ihre Dachterrasse war ein wunderschöner gepflegter, duftender Chrysanthemengarten, sehr eindrucksvoll, wie er zugeben musste. Chrysanthemen waren schon immer ihre liebsten Blumen gewesen, das war ein Faible, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte.
Im Wohnzimmer fand er ihre Lesebrille, die sie angeblich nicht brauchte, und eine aufgeschlagene Frauenzeitschrift. Er schmunzelte, doch das Lächeln gefror ihm auf den Lippen, als ihm klar wurde, wie wenig er doch über seine Schwester wusste. Früher, als Kinder, waren sie unzertrennlich gewesen, und alle Welt hatte sie die siamesischen Zwillinge genannt, doch wenn er sich so umschaute, in diesem Penthouse, in das er eingebrochen war, beschlich ihn das Gefühl, in den vier Wänden eines vollkommen fremden Menschen zu stehen. Gut, er wusste, welches Eis sie gern mochte und welches ihre Lieblingsblume war, dass sie es nicht mit der Ordnung hatte und dass sie eine blinde Nuss war, die zum Lesen eine Brille brauchte, was sie allerdings nicht zugab. Doch viel mehr war da nicht, die Vertrautheit von einst war längst im Mahlstrom der Zeit versandet.
Mit einem herzhaften Rülpser vertrieb er die sentimentalen Anwandlungen. Gefühlskacke! Zeit zu verschwinden. Mara hatte ein Date, das bewies die Klamottenparade im Schlafzimmer, und hoffentlich ließ sie sich endlich mal wieder anständig durchbumsen, das würde sie vielleicht auf andere Gedanken bringen. Morgen früh um zehn war eh alles gelaufen. Bis dahin konnte sie Smertin kaum noch in die Quere kommen, zumal es bereits kurz vor eins und sie immer noch nicht zu Hause war. Irgendwann musste auch Tamara Sturm schlafen.
Er stellte die leere Flasche auf der Kommode im Wohnzimmer ab und wandte sich zum Gehen, als seine Aufmerksamkeit von den gerahmten Fotos eingefangen wurde, die über der Kommode an der Wand hingen. Das war eine regelrechte Galerie. Die größte Aufnahme befand sich ziemlich genau in der Mitte, in einem augenscheinlich teuren Rahmen. Das Motiv berührte ihn, denn es zeigte eine überglückliche Mara, die ihrem großen Bruder einen Kuss auf die Wange drückte. Er erinnerte sich noch ganz genau an den Anlass, denn glückliche Anlässe waren rar geworden in den letzten Jahren. Sie hatten ihren 35. Geburtstag gefeiert, das Foto war auf der Party aufgenommen worden, die sie eine Woche danach geschmissen hatte. Er war höchstens eine halbe Stunde da gewesen. Am Geburtstag selbst hatte er ihr den Feuerstuhl geschenkt, den sie zuerst nicht haben wollte, doch mit diesem Kuss hatte sie sich nachträglich bei ihm bedankt. Ein schöner Schnappschuss, von dessen Existenz er bisher nichts gewusst hatte.
Nachdenklich berührte er den Rahmen. Offenbar lag ihr etwas an ihm, denn sonst hätte sie das Foto nicht in den Mittelpunkt der Galerie gerückt. Oder zog er falsche Schlüsse? Ihr Hochzeitsfoto, das sie in Weiß an der Seite dieser Oberpfeife zeigte, die ihr Exmann war,
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