Sturmsegel
Gitta gesprochen hatte, hatte er nach einem Doktor geschickt. Der Medikus, auf den sie durch den Türspalt kurz einen Blick werfen hatte können, erinnerte Anneke an den Doktor aus Stralsund.
Nun brach sie unter dem Gewicht der Humpen beinahe zusammen. Sie fragte sich, wie es Gitta fertig brachte, all diese Last zu schleppen.
Natürlich fiel die Abwesenheit der Magd auf. Zahlreiche Gäste fragten nach ihr. Anneke versuchte ihnen so gut wie möglich zu antworten, doch natürlich konnte sie nicht mehr sagen, als sie wusste. Der Medikus hatte ihr nicht verraten, worunter Gitta litt.
»Na, kriegt sie endlich ein Balg von Magnus?«, fragte Hakan respektlos, als sie ihm etwas verspätet seine Suppe brachte. Natürlich hatte er sofort bemerkt, dass Gitta nicht da war.
Anneke verschlug es den Atem. »Woher soll ich das wissen?«, fuhr sie den Spielmann an. »Außerdem, was geht es dich an?«
»Nun, es würde mich nicht wundern!«
»Wenn du es wissen willst, dann frag selbst!«
Damit wirbelte sie herum und lief zurück in die Küche.
Tjorven saß wieder neben dem Herd und schnitzte, als wäre nichts.
Dass er sich nicht um Gitta sorgte, war verständlich. Aber er hätte Anneke doch wenigstens ein wenig helfen können!
Doch nach dem merkwürdigen Gespräch am Nachmittag traute sie sich nicht, ihn dazu aufzufordern.
Nach einer Weile fiel es Magnus aber auf, dass Anneke allein nicht fertig wurde. Die Gäste beschwerten sich, weil sie auf das Essen und ihre Humpen warten mussten. Dem Wirt blieb schließlich nichts anderes übrig, als seine Frau herbeizuholen, damit sie das Essen kochte.
Inga hatte offenbar schon eine ganze Weile nicht mehr in der Schenke gearbeitet. Anneke merkte recht schnell, dass sie anscheinend Angst hatte, hinauszugehen und die Gäste zu bedienen.
Die Humpenschlepperei teilte sie sich schließlich mit Tjorven. Da Magnus aber immer wieder nach oben lief, um nach Gitta zu schauen, und sein Stiefsohn in der Zeit den Ausschank übernahm, musste sie die meiste Zeit allein laufen. Dabei bekam sie langsam das Gefühl, zu schrumpfen. Außerdem waren nicht alle Gäste geduldig oder freundlich. Einige von ihnen brummten, wenn sie etwas länger warten mussten, und obwohl Magnus wusste, dass weder Anneke noch Tjorven fliegen konnten, trieb er sie zur Eile an.
Einmal versuchte einer der Männer an den Tischen sogar, sie am Rock festzuhalten. Wütend machte sie sich los und fragte sich, wie Gitta solch ein Benehmen aushielt. Wenn sie die Humpen austrug, sah es nie so aus, als würde sie jemand belästigen.
Schließlich kehrte sie mit leeren Humpen zum Tresen zurück. Magnus war nicht da. Sah er etwa schon wieder nach Gitta? Anneke seufzte und überlegte, ob sie Tjorven rufen sollte.
Da hörte sie plötzlich einen Tumult in der Küche. Es klang, als hätte jemand ein paar Schüsseln vom Tisch geworfen.
Was war da los?
Anneke stellte die Humpen ab und lief zu der kleinen Tür. Als sie die Küche betrat, sah sie tatsächlich zerbrochene Schüsseln auf dem Boden liegen.
Magnus musste sie heruntergeworfen haben, als er auf der Jagd nach seinem Stiefsohn war.
Mittlerweile hatte er ihn erwischt.
»Du verdammte Missgeburt!«, fuhr der Wirt den Jungen an und packte ihn am Kragen. »Du hast Gitta vergiftet, gib es zu!«
Tjorvens Augen weiteten sich schreckerfüllt. Der Kraft des Wirtes hatte er nichts entgegenzusetzen. Er schüttelte den Kopf und öffnete hilflos den Mund, doch mehr als ein unartikulierter Laut kam nicht heraus.
Das ließ den Wirt noch wütender werden. Mit der freien Hand holte er aus und schlug ihm ins Gesicht.
Tjorven stieß einen schrillen Schrei aus und begann zu weinen.
»Ja, heul nur, du Missgeburt, ich werde dich windelweich prügeln!«
»Hört auf!«, schrie Anneke, als er ein weiteres Mal ausholen wollte.
Der Wirt hielt verwundert inne, denn er hatte nicht damit gerechnet, einen Zuschauer zu haben. Zunächst starrte er das Mädchen überrascht an, dann brüllte er: »Scher dich wieder in den Schankraum! Sonst schmeiß ich dich raus.«
Anneke schreckte zurück, doch bevor sie kehrtmachen konnte, stürmte Tjorvens Mutter die Treppe herunter. Sie klammerte sich an den Arm ihres Mannes und flehte: »Bitte, lass ihn sein. Er tut niemandem etwas zuleide.«
»So?«, entgegnete Magnus kampflustig. »Und willst du auch behaupten, dass er Gitta nicht angesehen hat, als würde er ihr jeden Augenblick den Tod wünschen? Vielleicht warst du es ja sogar selbst!«
Diese Worte schienen Inga
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