Sturmsommer
nämlich Angst, er läuft uns vielleicht weg. Wir haben ihn ja aus dem Tierheim. Seine eigentlichen Besitzer wollten auswandern. Aber eben ohne ihren Hund. Das fand ich ziemlich gemein. Trotzdem war Henri still und traurig in den ersten Tagen bei uns, und ich befürchtete, er könnte nachts abhauen und nach Herrchen und Frauchen suchen. Aber nun liebt er uns heiß und innig. Vor allem mich. Lissi ist manchmal fast eifersüchtig deshalb.
Ja, ich muss unbedingt ganz schnell zu Mama, Papa, Lissi und Henri. Ich packe hastig mein Zeug zusammen, reiße die Tür auf und - Mann, kann die einen erschrecken. Berta steht da, einfach so, mitten im Türrahmen, breitbeinig wie immer, und ich muss wieder auf ihre riesigen Zehen gucken. Was steht sie nur da herum?
»Thomas, deine Eltern sind da.«
Entnervt stöhne ich auf und wedle mit meinem Rucksack. »Ich weiß. Ich weiß! Deshalb steh ich hier!«
Wieder fällt mein Blick auf ihre Zehen, und sie schaut mich an, weil sie das weiß, aber ich glaube, sie weiß nicht, wie sehr ich zu meinen Eltern will.
Ich täusche sie an, wie beim Basketball, und wupps!, bin ich an ihr vorbeigewitscht. Bei dieser Bewegung muss ich mich kurz an sie drücken, und dabei steigt ein Geruch aus ihrem Kittel hoch, den ich ganz schnell wieder vergessen möchte.
Ich will jetzt endlich hier raus! Ich rase die Treppe hinunter, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her. Dabei renne ich beinahe gegen einen Arzt und eine Schwester mit Essenswagen, die eine fahrige Ausweichbewegung macht. Ich drehe mich nicht mehr um, aber hinter mir scheppert es gewaltig.
Und ständig höre ich Bertas schwerfällige Schritte und ihre Rufe. »Thomas! Nicht! Du hattest eine Gehirnerschütterung! Nicht rennen! Nicht rennen! Hörst du? Thomas!!!«
Ja, ja, ich höre dich. Ich laufe den letzten Gang entlang, vorbei an der Cafeteria, wo alle hinter mir her starren, noch drei Stufen, die Pforte - da sind Lissi, Mama und Papa! Endlich!
FLUCHT
»Damos! Meine Rübennase!« Ich rufe, obwohl ich ihn noch nicht sehen kann. Aber ich höre ihn drinnen wiehern und schnauben.
Da ist er ja. Den Hals lang gestreckt schnuppert er mir entgegen. »Damos …« Ich presse meinen Kopf an seine Nüstern und er bleibt ganz still stehen. Endlich bin ich bei meinem Pferd. Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung.
Ich muss ihn unbedingt ausreiten, ich hab schon heute Nacht davon geträumt, ständig. Während ich ihn striegle und sattle, rede ich mit ihm. Halte zwischendurch inne und merke, wie bescheuert sich das doch anhört. Aber ich mache das automatisch. Ich bekomme eine andere Stimme und sage alles zweimal. Fast jeden Satz. »Du kriegst ja was. - Ja, du kriegst ja was.« Aber das mache ich nicht nur bei Damos, sondern bei allen Tieren. Und ich bin sicher, dass Damos mich versteht. Er schaut immer so klug unter seinen Ponysträhnen vor. Zumindest weiß er ganz genau, ob es mir gut geht oder nicht.
Als Oma in diesem Frühjahr gestorben ist, bin ich von zu Hause abgehauen und hab mich zu Damos in die Box gelegt. Ich wollte mit alldem nichts zu tun haben, mit diesen vielen traurigen Menschen und Mamas Tränen. Wenn man so alt ist wie ich, sollte die Oma noch nicht sterben. Aber es war eben so, auch Papa hatte ihr nicht mehr helfen können.
Es war kalt gewesen im Stall, richtig eisig, aber Damos legte sich hin, sodass ich mich an seinen Hals ins Heu kuscheln konnte. Und er legt sich sonst nie hin. Ich bin bei ihm eingeschlafen, es hat mich so müde gemacht, auf sein Herz zu hören; und später haben sie mich dort gefunden. Mama war ganz aufgelöst und verweint, aber ich hatte wohl auch geweint. Sie waren mir nicht böse gewesen. Hatten sich nur Sorgen gemacht.
»Na komm, gib den Huf!« Sogar das Hufeauskratzen macht mir heute Spaß. Gestern Abend nach dem Film haben wir noch über die Reiterfreizeit geredet. Mama hatte natürlich vorher Freddies Vater angerufen, um sich genauer zu erkundigen. Ich hab gelauscht, das mache ich immer, wenn es um mich geht. Mama ist wohl recht angetan von der Idee. Ich glaube, es hat sie beeindruckt, dass Freddies Papa seinen Sohn alleine groß zieht. Und dann war der Rest ein Kinderspiel.
Der Haken: Mathe. Eigentlich ist es ja Erpressung. Wenn ich eine Fünf schreibe, darf ich nicht mit. Aber um eine Vier oder besser zu schreiben, brauche ich Nachhilfe. Ich habe jetzt so viel Stoff versäumt, als ich im Krankenhaus war.
Nachhilfe bei Tanja. Das ist erst einmal ein Muss. Aber warum ausgerechnet bei
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