Sturmsommer
Kaba schmeckt mir auch nicht.
»Hey, aufwachen.« Es ist Marc. Er knabbert an einem Müsliriegel und schielt auf meine Schneckennudel.
»Kannste haben«, sag ich und geb sie ihm, und den Kaba gleich dazu. Er strahlt.
»Was ist denn heute los mit dir?«
»Hmpf«, mache ich. Ich mag Marc, wirklich. Aber ich will nicht reden. Weil ich gar nicht genau weiß, was los ist, und wenn ich wirklich anfangen würde zu erzählen, müsste ich das mit den Nachhilfestunden erwähnen und dann - nein, ich kann das nicht. Ich vertraue ihm schon, ja. Aber Marc sagt immer direkt, was er denkt. Und ich glaube, bei ihm könnte ich das nicht so handhaben wie bei Toni. Dass alles Ansichtssache ist. Diplomatie und so.
Und dieses Gespräch zwischen Tanja und Barbara, das ich eben belauscht habe, kann ich irgendwie auch nicht gleich vergessen. Ich versuche es die ganze Zeit. Kann mir ja egal sein, ob die beiden befreundet sind oder nicht. Aber ich bin einerseits sauer, dass Barbara so mies über mich redet, und auf der anderen Seite fühl ich mich beschissen, weil Tanja ihr nicht beipflichtet. Auf jeden Fall braucht Barbara mir gegenüber nicht mehr so zu tun, als fände sie mich toll. Das kann sie abhaken. Und Meteor ist kein blödes Pferd.
»Hmpf?«, echot Marc fragend und zieht die Brauen hoch. Er grinst immer noch. Dann legt er mir kurz die Hand auf die Schulter. »Ist okay«, sagt er und verschwindet zu den anderen. Ich atme auf. Er ist nicht sauer.
Hinten am Oberstufenraum steht Lissi, auch alleine und immer noch so blass wie heute Morgen. Ich gehe zu ihr rüber und stelle mich neben sie, ohne was zu sagen.
»Ach Tom«, flüstert sie leise.
»Ich weiß«, sage ich. Und bin froh, dass da noch jemand ist, der heute nicht glücklich ist. Jemand aus meiner Familie. Dem ich nichts erklären muss.
Es ist wie immer ein erhebendes Gefühl: Ich schließe mein Fahrrad auf, setze mich auf den ungemütlichen Sattel, trete fest in die Pedale und kann endlich von dem träumen, was ich eben gemacht habe. Springreiten. Vor jeder Springstunde fühle ich mich ein wenig anders als vor den normalen Dressurstunden, die ich nicht so mag, die von Papa jedoch als Pflicht bezeichnet werden. Nur wer gut Dressur reitet, könne auch gut Springen, sagt er. Ich liebe das Springen, aber ich hab jedes Mal ein unruhiges Flattern im Bauch, wenn es losgeht. Damos merkt das natürlich sofort. Und dann ist er noch aufgeregter als sonst.
Aber wenn wir es hinter uns gebracht haben, es geklappt hat und wir gesprungen sind - dann muss ich immer und immer wieder daran denken. Und freue mich wie wahnsinnig auf die nächste Stunde. Obwohl ich ganz genau weiß, dass ich wieder mit Herzklopfen in den Sattel steige. Diesmal habe ich sogar ein knappes Lob von Markus bekommen, weil ich Damos sein Gezicke nicht durchgehen ließ und weitergeritten bin, als er buckelte. Und trotzdem das nächste Hindernis angesteuert habe. Er hat es tatsächlich genommen, zwar mit wildem Schnaubem und peitschendem Schweif, aber er ist gesprungen.
Ich fühle mich tausend Mal besser als heute Morgen. Für diese Woche ist es geschafft und es dauert lange acht Tage bis zur nächsten Stunde; sie kommen mir vor wie ein ganzes Leben. Dann schießt mir die Arbeit durch den Kopf - noch zehn Tage. Die mir plötzlich kurz erscheinen. Übernächsten Dienstag. Schon so bald.
Trotzdem. Es ist Freitag, es ist Wochenende, die Sonne scheint; ich will jetzt nicht daran denken. Ich lasse den Stall hinter mir und biege auf den holprigen Feldweg ab.
»Schickes Rad.«
Vor Schreck mache ich eine Vollbremsung, komme ins Schleudern und kann mich gerade noch abfangen, bevor ich stürze. Aber mir schlägt der Lenker gegen die Brust. Autsch.
Marc hockt auf einer alten, knorrigen Bank am Wegrand, wie immer ganz ruhig und gelassen und hellwach. Als habe er genau gewusst, dass mir nichts passiert. Selbst wenn er mich so überrascht wie jetzt. Marc ist nicht wie die anderen. Papa sagt ja immer, aus dem würde mal was werden. Der wäre intellektuell. Ich weiß nicht ganz, was er damit meint, aber wenn er sagen will, dass Marc was Besonderes ist, dann hat er recht. Marc schreibt fast nur Einsen und Zweien, aber er redet nicht drüber. Ihn würde ich deshalb nie beneiden. Er macht das so nebenbei, fast, als wäre es ihm im Grunde egal. Ich glaube, er lernt nicht mal. Er ist kein Streber, nicht wie Tanja, er ist einfach klug. Und dann malt er diese Wahnsinnsbilder im Kunstunterricht, in denen man versinken kann. Richtig
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