Sturmsommer
Mathearbeit. Mir ist richtig schlecht. Eben beim Abendessen habe ich wieder keinen Bissen herunterbekommen. Ich hab unzählige Male überlegt, heimlich in den Stall zu fahren, denn Damos macht mich immer ruhig, aber Mama hat mich die vergangenen Tage über verfolgt, als sei ich ein entflohener Sträfling. Sie war wirklich überall. Ich fühlte mich sogar auf dem Klo beobachtet. Das Höchste der Gefühle war, mit Lissi beim Bauern Eier und Milch zu holen; und das war keine Freude, so still und schlecht gelaunt wie Lissi momentan ist. Sie erzählt auch kaum etwas; meine Eltern wissen noch nicht, dass Chris Schluss gemacht hat. Okay, offiziell nicht. Mama hat versucht, mich auszuquetschen. Keine Chance. Trotzdem, sie weiß es. Mütter wissen immer alles. Und das ist auch Lissi klar.
Also, die vergangenen Tage waren still, ungemütlich und verklemmt. Und jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch und kapiere die eine Formel immer noch nicht. Ich hab in der letzten Nachhilfestunde schon geahnt, dass das nicht angekommen ist in meinem Oberstübchen. Aber ich dachte auch, dass ich es keine Minute länger mit Tanja aushalte. Es gewitterte die ganze Zeit und sie zuckte nicht einmal zusammen, ich dafür ständig. Und Henri machte mich wahnsinnig mit seinem Gefiepse. Es hat nicht viel gefehlt, und ich hätte losgebrüllt, so gereizt war ich.
Aber was, wenn genau diese Formel morgen drankommt? Nicht auszudenken. Früher hab ich ab und zu mal ‘ne schlechtere Note geschrieben und es war okay. Nichts hat sich deshalb verändert in meinem Leben. Jetzt hängt so viel davon ab. Das, was ich mir schon immer gewünscht habe: Urlaub zusammen mit meinem Pferd und meinen Freunden. Besser geht’s nicht. Ich hab das auch Lissi versucht zu erklären, als sie fragte, warum ich so »unausstehlich« sei. Sie meinte nur: »Und danach?«
»Was danach?«, fragte ich.
»Das Leben besteht doch nicht nur aus diesen dämlichen Reiterferien«, antwortete sie hitzig. »Danach ist bald wieder Schule, es gibt Tests und Klassenarbeiten und Stress und Ärger.« Nein, es machte keinen Sinn, mit Lissi darüber zu reden.
Heute Morgen war ihr Kissen wieder nass geweint. Ich wollte sie wecken und fragen, ob sie mit mir und Henri rausgeht, aber sie war schon im Bad und zupfte an ihren Haaren herum. Als ob das etwas ändern würde. Aber was ich darüber denke, spielt für sie keine Rolle. Ihre Augen sind wie Fenster, an denen die Rollläden runtergelassen sind. Sie sieht mich gar nicht mehr.
Und ganz ehrlich: Für mich gibt’s noch kein Danach. Ich denk da nicht dran. Ich will mit, koste es, was es wolle.
Koste es, was es wolle? Tatsächlich? Irgendwie schoss vorhin diese verrückte Idee in meinen Kopf, Tanja anzurufen wegen der blöden Formel. Lissi arbeitet in der Eisdiele (und das, obwohl sie jetzt ja gar nicht mehr mit Chris in den Urlaub fährt); Mama und Papa sind ausgegangen. Und die können mir dabei sowieso nicht helfen. Toni ist in seinem Modellbauverein; und Marc geht nicht ans Telefon. Marc telefonisch zu erreichen, ist ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Er hasst Telefone. Er hat nicht einmal ein Handy. Und niemand zieht ihn deshalb auf. Sogar Jens nicht.
Zehn Euro hab ich hier noch rumfliegen, ich könnte Tanja bezahlen. Ich könnte es versuchen. Gut. Ich versuche es. Alles sträubt sich in mir, als ich runter zum Telefon gehe. Da hängt ihre Nummer an der Pinnwand über dem Telefontisch. Mama hat immer die Stunden ausgemacht. Mit Tanjas Mutter. Nie wir beide selbst. Wir reden ja außerhalb der Stunden nicht miteinander.
Ich nehme den Hörer ab und halte ihn probeweise an mein Ohr. Lege ihn wieder auf den Tisch. Lege auf. Vielleicht nehme ich besser das Mobilteil und gehe damit in mein Zimmer. Da fühle ich mich wohler als hier im Flur. O Gott, ist das albern, jetzt reiß dich zusammen, sag ich zu mir selbst. Ich will da mit. Und ich tu alles dafür. Alles.
Ich wähle die Nummer. Freizeichen. Es dauert, bis jemand abnimmt.
»Ja, hallo?«, fragt endlich eine müde Stimme. Ist sie das?
»Tanja?«
»Ja - wer ist da?« Jetzt klingt sie wacher.
»Ich bin’s, Tom.« Ich muss schlucken und ich glaube, sie schluckt auch. Es ist so still im Hörer. »Ich kapier die eine Formel immer noch nicht.«
Sie stöhnt gereizt auf. Na prima. Das hätte ich mir sparen können. Aber denk an die Reiterferien, sag ich mir. Du wolltest doch alles dafür tun.
»Ähm - kannst du vorbeikommen? Und mir das erklären?«
»Tom, es geht jetzt nicht. Wirklich. Ich
Weitere Kostenlose Bücher