Sturmsommer
Boxentür. »Wirklich.« Dörte und ich pöbeln uns eigentlich nur an. Sie wird hier zur Pferdewirtin ausgebildet und hat ein echtes Schandmaul. Rotzfrech und vorlaut. Aber wir kommen miteinander aus, und wenn ich hier jemandem außer meinem Reitlehrer Damos anvertraue, dann ihr. Heute Abend ist sie ein klein wenig netter, wahrscheinlich, weil sie sieht, wie sehr ich leide.
Ich hab bis Dienstag Damos-Verbot. Wegen Mathe. Ich soll lernen, nicht reiten; und Mama begrüßt diese Gelegenheit, um endlich mal alle meine Reitklamotten in die Waschmaschine schmeißen zu können. Ich muss es ausnahmsweise nicht selbst machen. Ich soll lernen. Und so wühlt sie ständig in meinem Schrank und dem Wäschekorb herum. »Damit dieser Gestank aus deinem Zimmer verschwindet«, sagt sie. Haha. Von wegen Gestank. Das ist der beste Geruch der Welt.
Ich lehne mich an Damos’ Hals und er bleibt still und sanft stehen und macht beruhigende Schnaufgeräusche. Ich glaube, ich hänge schon seit einer Stunde so in seiner Box und kann mich nicht losreißen. Dörte scheint das mächtig zu amüsieren.
»Verherrliche dieses Pferd nicht so, er ist manchmal ein richtiger Sturkopf.«
»Ist er nicht!«
Aber ich weiß, was sie meint. Damos und ich haben schon so manche Kämpfe in der Reithalle ausgefochten. Er will da hin, ich will dort hin; er möchte buckeln, ich möchte galoppieren; er will fressen, ich arbeiten. Und dann erst die Gespensterecke. Ich hör jetzt noch meinen Reitlehrer brüllen, als Damos am Anfang mit mir machte, was er wollte: »Setz dich durch! Du musst dich durchsetzen! Schenkeldruck, mehr Schenkel!« Und ich saß da oben völlig hilflos auf dieser Riesenmaschine namens Pferd und dachte, das bekomme ich niemals hin. Dass er auch nur einmal an dieser Ecke vorbeigeht, ohne zu scheuen. Zumal ich hordenweise von Mädels umgeben war, die mich kritisch beäugten. In der Gruppe war ich jahrelang der einzige Junge.
Aber obwohl Damos mich bis aufs Blut reizte, wollte ich nie ein anderes Pferd als ihn haben. Mein Schimmelchen.
»Na komm, reiß dich los, ich würd’ gern misten«, holt Dörte mich aus meinen Träumereien zurück.
Noch einmal Stirn kraulen und Nüstern streicheln. Damos schnaubt leise. Ich stehle mich aus der Box und überlasse sie Dörte, die sogleich das Radio aufdreht und die Mistgabel schwingt. Meteor hat sich nebenan ins Stroh gelegt und döst mit halb offenen Augen. Der alte Kerl ist schon über zwanzig. Man sieht es ihm nicht an, aber er ist ein Opi. Er war mal ein gutes Springpferd, aber jetzt kann er keine Turniere mehr bestreiten. Seine Besitzerin hat ihn hier reingestellt und lässt ihn bereiten und pflegen. Unter anderem von Tanja.
Tanja. Die muss ich noch zwei Mal ertragen am Wochenende. Am Wochenende! Auch das noch! Aber diese beiden Stunden bekomme ich noch irgendwie hinter mich und ich habe diesen Traum, dass ich eine richtig gute Note schreibe und anschließend nie wieder Nachhilfe brauche.
Doch wenn ich über den Aufgaben sitze und rechne, wird mir wieder bewusst, dass es tatsächlich nur ein Traum ist. Ich verstehe immer noch viel zu wenig. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich achte auf alles andere, nur nicht auf die Zahlen. Dauernd bleiben meine Augen an Tanjas schmalen Händen hängen und an ihren Haaren, ob ich es will oder nicht. Ich hasse das. Ich bin in den Stunden so angespannt, dass ich sogar das Gluckern in Tanjas Bauch höre. Der gluckert ziemlich oft. Letzte Stunde hat sie dann irgendwann genervt in ihre Tasche gegriffen und eine Möhre rausgeholt, die wohl eigentlich für Meteor gedacht war. Mit lautem Krachen hat sie sie zerbissen. »Hatte keine Zeit, mittagzuessen«, grummelte sie. Ich weiß ja nicht, welchen tausend Leuten sie noch Nachhilfe gibt, aber ich fand das eine seltsame Erklärung. Man hat doch immer Zeit, zu Mittag zu essen. Oder war sie Zwiebeln schälen in der Mühle?
Was denke ich wieder so viel über sie nach? Ich muss nur mindestens eine Vier schreiben, und dann ist der Sommer gerettet und Tanja Geschichte. Alles andere wäre wirklich eine Katastrophe. Denn jetzt gehen auch noch Anja und Marc mit auf den Wanderritt. Ihre Eltern haben endlich grünes Licht gegeben. Wenn ich nicht mitkann, bin ich nicht nur wütend und traurig, sondern auch Außenseiter.
Ich darf nicht drüber nachdenken, sonst kann ich mich auf gar nichts mehr konzentrieren. Und erst recht nicht auf Mathe.
Zum hundertsten Mal rechne ich die Stunden aus. Sechzehn. Sechzehn Stunden bis zur
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