Sturmsommer
kann hier nicht weg.«
Sie kann nicht weg, was soll das bedeuten? Natürlich kann sie, wenn sie nur will, wieso sollte sie nicht können?
»Okay, dann komm ich zu dir«, versuche ich einen anderen Weg.
Wieder ist es still im Hörer. Und zwar ziemlich lange.
»Tanja, bist du noch dran?«
»Jaaa …« Sie klingt noch genervter. Da soll mir mal einer erzählen, die wär verliebt. So ein Bullshit. Niemals ist die verliebt.
»Bitte, ich muss ‘ne gute Note schreiben, ich kann mir nicht leisten, die Arbeit zu verhauen, ehrlich, ich muss das kapieren.«
»Ich, ich, ich«, äfft sie mich nach. »Immer nur ich. Holunderweg 13. Und beeil dich.« Sie legt auf.
Jetzt ist mir noch schlechter als vorher. Ich sammle meine Bücher zusammen, schreibe Mama einen Zettel, dass ich bei Tanja bin, und krame den Stadtplan aus der Kommodenschublade. Holunderweg, wo um Himmels willen ist das nur? Hier, aha, ich hab die Straße gefunden. Draußen am Stadtrand. Aber auf der gegenüberliegenden Seite von uns. Ich kenne niemanden, der da wohnt. Das ist doch auch ewig weit weg von unserer Schule.
Ich brauche fast eine halbe Stunde, bis ich da bin. Es ist eine komische Gegend. Ich habe das Gefühl, die Leute glotzen mich an. Überall hohe Wohnblocks mit winzigen vollgestellten Balkonen, und dazwischen abgetretene Wiesen, auf denen Kinder Fußball spielen oder Wäsche aufgehängt wurde. Neben dem Discounter sitzen ein paar Männer mit Bierflaschen. Vor mir auf dem Radweg läuft eine dicke Frau mit drei kleinen Kindern. Das Mädchen, das sie auf dem Arm trägt und über die Schulter zu mir guckt, hat eine Rotznase und weint quengelig vor sich hin. Der Junge kann seine Augen nicht von meinem Rad lassen. Sein verschmierter Mund steht offen, so staunt er. Wo zum Teufel ist der Holunderweg?
Ich halte an und frage die dicke Frau mit den Kindern. Jetzt sehe ich, dass sie noch ziemlich jung ist. Viel jünger als Mama. »Holunderweg? Da vorne, bei den Türmen«, sagt sie müde. Sie riecht komisch, irgendwie nach Windeln und den Weinbrandbohnen, die Oma immer gegessen hat. »Wie teuer ist das Rad?«, fragt mich der kleine Junge mit großen Augen. Ich möchte nur noch weg. »Ich … ich weiß es nicht«, sage ich verlegen. »Red nicht mit Fremden«, schnauzt seine Mama ihn an und zieht ihn am Ärmel zu sich. Sein Pulli verrutscht, sodass ich seinen kleinen runden Bauch sehen kann. Er fängt an zu heulen. Oje, ich weiß wirklich nicht, wie teuer das Rad ist. Papa hat es mir geschenkt. Ich weiß nicht mal, wie viel Damos gekostet hat. Wenig kann es nicht gewesen sein, schließlich wird er zum Springpferd ausgebildet.
Ich schließe mein Rad ab und betrete den Holunderweg. Er besteht aus zwei wuchtigen Hochhäusern. Mindestens fünfzehn Stockwerke. Volens heißt sie mit Nachnamen. Volens. Ich suche die Namensschildchen ab. Da. Hier ist es. Ich klingle. »Tom?«, flüstert es leise aus der Sprechanlage.
»Ja.«
»Achter Stock, mittlere Tür, bitte sei leise.« Leise? Warum das?
Im Aufzug müffelt es. Ich fahre nicht gern Aufzug, aber ich will auch so schnell wie möglich wieder aus diesen dunklen Fluren raus. Schlecht ist mir eh schon. Da kann mir auch noch schwindlig dazu werden. Im vierten Stock steigt eine Frau mit Kopftuch zu. Sie lächelt mich an. »Zu Besuch?«, fragt sie in gebrochenem Deutsch. »Hmhm«, sage ich und nicke. Ich komme mir vor wie ein Alien. Jeder scheint zu merken, dass ich nicht in dieser Gegend wohne. Aber woran nur?
Die Tür zu Tanjas Wohnung ist angelehnt. Ich gehe vorsichtig rein. Ein kleiner dämmriger Flur führt ins Wohnzimmer. Eine Couch, ein Sessel, ein Fernseher, viele Bücher. Alles ganz ordentlich. Aber wo ist Tanja? Ich schaue mich um. Aus dem Fenster hat man einen Blick auf die Stadt und die anderen Blocks; man sieht sogar einen Zipfel Bodensee. Vom Wohnzimmer kann ich in die Küchenecke gucken. Kein Esszimmer. Oder geht es hier noch irgendwo weiter? Wo ist die Treppe?
»Schschsch, ist ja gut.« Auf einmal steht Tanja im Zimmer. Mit einem Säugling auf dem Arm. »Hi«, sagt sie und unterdrückt ein Gähnen. »Wollte dir eigentlich noch sagen, dass du nicht klingeln sollst. Jetzt ist sie aufgewacht.« Tanja läuft rot an. Das Baby strampelt mit den Beinen und brabbelt verschlafen vor sich hin.
Sie? Wer ist diese sie? Und wo sind Tanjas Eltern? Sind hier keine Eltern? Moment. »Ist das - ähm … ist das etwa …?« Ich zeige auf die Kleine und traue mich nicht zu sagen, was ich denke.
»Meine Schwester!«,
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