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Sturmsommer

Sturmsommer

Titel: Sturmsommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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sagt Tanja schnell und wird noch röter. »Also echt. Das ist meine Schwester.« Die Kleine quäkt und ein dünner Sabberfaden läuft aus ihrem runden Mündchen. Tanja wischt ihn mit dem Zeigefinger weg.
    »Ähm. Okay«, sage ich verlegen. Das ist irgendwie eine ganz bescheuerte Situation, und ich würde alles darum geben, endlich aus diesem Traum zu erwachen. Ich bin fast erleichtert in der Ecke ihre Reitstiefel zu sehen, wenigstens etwas Vertrautes.
    »Wie heißt sie?«
    »Lara.«
    »Hey Lara.« Ich gehe rüber und schaue sie mir an. Hat schon Tanjas rote Wolle auf dem Kopf. Noch so ein Satansbraten. Ich strecke ihr unwillkürlich meinen kleinen Finger hin. Sie greift danach und grinst mich schief an.
    Ach du Heiliger, wie wir dastehen, Tanja, ich, das Kind, wie sieht das denn aus. Ich springe einen Schritt zurück, als ich das registriere.
    »Okay, gehen wir in dein Zimmer.« Ich suche immer noch eine Treppe.
    »Das ist mein Zimmer«, sagt Tanja mit leiser Schärfe. »Das hier ist eine Zweizimmerwohnung. Das andere Zimmer ist das Schlafzimmer von mir und meiner Mama. Und der Kleinen. Da willst du wohl nicht lernen, oder?«
    Sie geht zum Küchentisch und setzt Lara vorsichtig in ein Hochstühlchen. Ich stehe wie festgenagelt in »ihrem« Zimmer. Das ist also alles. Dieser Raum, die Küche, ein Schlafzimmer. Ich muss dringend pinkeln, aber ich trau mich nicht, nach dem Bad zu fragen. Als würde es auch kein Bad geben.
    »Was kapierst du denn jetzt wieder nicht?«, ruft sie aus der Küche.
    Wieder nicht. O Mann. Kleine Wohnung, große Klappe. Ich zerbrösle mit meinen Fingern schon fast den 10-Euro-Schein in meiner Tasche, so sehr stresst mich diese Situation. Ich muss an Marcs Worte denken, wie gut wir es doch haben.
    »Tom, bitte, ich bin hundemüde. Komm schon.«
    Ich setze mich zu ihr und Lara, die in ihrem Hochstühlchen einen Stoffesel besabbert, und bin zum ersten Mal froh, dass es Mathebücher gibt. Und Formeln. Und Zahlen. In die ich mich vertiefen kann. Und all diese Fragen verdrängen. Wo ihre Mutter ist. Ob es einen Vater gibt. Warum sie hier wohnt. Warum kein Haus. Warum in dieser Siedlung.
    Nein, jetzt gibt es nur Zahlen und Gleichungen. Ich halte mich daran fest und plötzlich sehe ich einen Sinn darin. Ja, es macht Sinn. Ich klammere mich richtig an die Aufgaben. Und rechne.
    »Geht doch«, sagt Tanja schließlich. Sie kann kaum mehr ihre Augen offen halten. Lara ist eingeschlafen und liegt wie ein kleines Würmchen in ihrem Laufstall, in den Tanja sie vorhin behutsam hineingesetzt hat. Ich packe meine Bücher ein und versuche ganz leise zu sein. Ich komme mir blöd vor, als ich Tanja die zehn Euro gebe.
    Das war meine letzte Stunde, meine letzte Stunde bei Tanja. Und ich kann mich nicht richtig darüber freuen.
    Im Aufzug habe ich plötzlich Angst, mein Rad könnte gestohlen worden sein. Aber es ist noch da. Ich trete so fest in die Pedale, dass meine Waden wehtun. Der Fahrtwind treibt mir die Tränen in die Augen. Noch nie in meinem Leben wollte ich so schnell nach Hause wie jetzt.

DER BRiEf
    Heute ist alles anders. Beim letzten Mal saß ich hier und in meinem Kopf war Leere. Jetzt ist mein Kopf voll. Zum Bersten voll. Er tut weh. Weil ich weiß, dass die Zeit nicht ausreichen wird, um all das zu notieren, was sich an Zahlenpyramiden in ihm auftürmt. Ich spüre, wie eine Schweißperle unter meinem Arm an meinen Rippen herunterläuft. Ich schwitze, meine Finger kleben und mein Mund ist trocken. Aber immerhin schreibe ich.
    Im Traum ist mir Lara begegnet. Ich kam in die Box zu Damos und Lara lag in der Futterkrippe, in einem langen weißen Taufgewand, und strahlte mich an. Aber Damos war weg und ich gruselte mich. Als ich aufwachte, rumorte es in meinem Bauch, bevor ich registrierte, dass heute der Tag ist, vor dem ich seit so vielen Stunden Angst hatte. Ich dachte, ich könnte nicht in die Schule gehen, so schlecht war mir. Aber mir war auch klar, dass ich das niemandem sagen konnte. Dass niemand Verständnis haben würde. Dass ich einfach muss. Kotze ich der Frau Schilfer eben auf den Tisch, von mir aus, dachte ich. Dann sehen die, was sie mit mir anstellen. Was dieser verdammte Druck bringt. Ich sagte mir das immer wieder und nach und nach ging es mir etwas besser.
    Die erste Aufgabe schaffe ich einfach nicht mehr. Zu wenig Zeit. Ich wusste nicht gleich den Lösungsweg, deshalb hab ich mit der zweiten angefangen. Die fünfte kann ich nicht lösen. Aber alle anderen habe ich ausgerechnet, mit

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