Sturmsommer
würde er mitfahren. Er wird doch wohl hoffentlich nicht mitfahren?
»Papa«, sagt Lissi vorwurfsvoll und er hört auf zu lächeln.
Okay, Lissi interessiert sich einen Dreck für meine Ferien. Schon verstanden. Jetzt fällt mir wieder ein, dass sie ihre Urlaubspläne ja gar nicht verwirklichen kann. Sie wollte eigentlich mit Chris weg. Was macht sie dann in den großen Ferien? Kommt sie mit uns mit, nach Sizilien?
»Also«, fängt sie an und schaut in die Runde. Sie hat wieder ihren Erwachsenen-Blick drauf. Was auch immer sie nun sagt - wir werden sie nicht davon abhalten können.
»Ich möchte für ein Jahr nach Amerika. An unsere Austauschschule in Kalifornien. Bitte. Ich könnte im September fliegen. Ich könnte dort auch surfen, das ist sogar ein Schulfach an der High School, endlich surfen im Meer.«
Es ist totenstill. Ich lasse vor Schreck meine Gabel fallen. Keiner ermahnt mich, als sie klirrend auf den Teller kracht. Irgendwie hab ich ein Problem mit unserem Besteck in letzter Zeit. Mamas Mund steht offen, Papa hat seine Augenlider gesenkt, als würde er nachdenken.
»Bitte«, sagt Lissi nachdrücklich. »Es wäre gut für mich.«
Und was ist mit mir? Was soll ich ohne sie tun? Warum ist meine Welt in letzter Zeit immer nur für wenige Minuten in Ordnung?
»Nein!«, rufe ich laut in das Schweigen hinein und springe auf. »Nein, das kannst du nicht machen. Das kannst du einfach nicht machen!«
»Tom«, sagt Mama mahnend. »Setz dich wieder hin, bitte.«
Ich kann mich jetzt nicht hinsetzen. Lissi war immer da, immer, wir haben uns abends Klopfzeichen durch die Wand gegeben vor dem Einschlafen, ich habe meine ganze Musik aus ihrem Regal, sie hat mir Surfen beigebracht und wir haben uns so oft aus Der Herr der Ringe und Harry Potter vorgelesen. Sie darf einfach nicht gehen. Ich halte es nicht aus, diesen Gedanken. Ein Jahr! Ein Jahr ist so schrecklich lange! Vielleicht kommt sie ja auch gar nicht zurück, wenn es dort doch so klasse ist.
»Wenn es ihr guttut, sollte sie es machen«, sagt Papa ruhig, aber bestimmt.
»Ich will es, Papa. Ich muss hier weg. Ehrlich. Und ich will sowieso Amerikanistik studieren.«
»Wir müssen vorher einen Familienrat machen! Das geht nicht einfach so! Das könnt ihr nicht!« Niemand scheint mir zuzuhören. Ich merke, dass ich heulen muss. Ich will nicht, dass die das sehen. Ich drehe mich um und renne ins Haus, nach oben auf mein Zimmer. Ich verstehe nicht, warum sich dauernd etwas ändern muss. Warum nichts so bleiben kann, wie es ist, nicht einmal für fünf Minuten. Ich vergrabe meinen Kopf im Kissen und versuche nicht zu weinen. Aber es gelingt mir nicht. Schon im September will sie weg.
Ich spüre eine Hand in meinen Haaren. Ich weiß, dass es Lissi ist. Sie dreht meine Locken um ihren Zeigefinger. Ist eine ihrer Manien. Das kann sie stundenlang machen. Mein Lockenkopf ist eine ihrer Spielwiesen. Aber ihre eigenen Locken kann sie nicht leiden.
»Tom, bitte lass mich da hingehen. Ich muss auch mal etwas anders sehen. Raus hier. Und jetzt ist eine Klassenkameradin abgesprungen und ich kann zu dieser Familie. Das ist die Chance.«
Ich weiß, dass ich nichts mehr ändern kann. Ab September bin ich Einzelkind. Auf einmal bin ich neidisch auf Tanja. Ihre Lara wird nicht so bald eine einjährige USA-Reise machen.
»Du kannst mich besuchen kommen. Du kommst mich besuchen, oder? Schau mich mal an.«
Sie dreht meinen Kopf sanft um. Jetzt sehe ich, dass sie auch weint.
»Wenn du doch auch traurig bist, warum gehst du dann?«, frage ich sie verzweifelt. Ich hasse meine Stimme, wenn ich heule.
»Ich gehe, weil ich traurig bin. Verstehst du das?«
Ich verstehe es. Seit der Trennung von Chris ist Lissi nicht mehr wie früher. Ich darf sie nicht überreden zu bleiben. Obwohl ich es so gerne versuchen würde. Ich muss sie jetzt rausschmeißen, sonst versuche ich es wirklich und vielleicht würde es klappen.
»Lass mich bitte alleine.« Ich drücke ihre Hand von meinem Kopf weg. Sie beißt sich auf die Lippen und atmet tief durch.
»Okay - es tut mir leid. Du wirst mir fehlen.« Sie schließt leise die Tür.
Ich muss hier raus. Ich hab zu viele Gedanken im Kopf. Da ist die Freude über die Mathearbeit, die Wut wegen Lissis Plänen und irgendwie auch Angst vor dem, was kommt. Vor dem leeren Zimmer nebenan.
Es gibt nur einen, bei dem ich jetzt sein möchte. Und das ist Damos.
Mama hat mich nicht aufgehalten, als ich verschwunden bin, ohne auch nur eine Zeile Hausaufgaben
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