Sturmsommer
habe.
»Ich habe gar nichts gedacht. Nichts. Ich konnte nicht mehr denken. Manchmal kann auch ich nicht mehr denken.«
Wir sitzen nebeneinander, beide mit zerrissenen Klamotten, verschwitzten Gesichtern und blutenden Händen. Ich reibe mir mechanisch meinen Arm, in dem der Schmerz wütet.
»Er wäre wenigstens würdevoll gestorben. Im Galopp. In einer schönen Gegend. Mit jemandem, der ihn liebt«, sagt Tanja leise.
»Und deine Schwester? Hast du mal an deine kleine Schwester gedacht?«
Sie schaut auf ihre Hände. »Ich hab manchmal einfach keine Kraft mehr. Auch für Lara nicht. Es tut mir leid. Wirklich. Es tut mir so leid.«
»Es ist mein Pferd, und ich lasse mein Pferd nicht in Bergschluchten stürzen, kapiert?«
Sie schaut mich fragend an. Ihre roten Haare kleben an ihrer Stirn.
»Das ist also kein Trick? Du hast ihn wirklich gekauft?« Ich sehe, dass sie Angst hat. Angst, es könnte nur gelogen gewesen sein.
»Na ja. Mein Papa hat ihn gekauft. Und ich hab das Handy geklaut, um ihn anzurufen. Und jetzt suche ich dringend eine Reitbeteiligung. Eine gute. Eine, die sich nicht in Schluchten stürzt.«
»Das hast du nicht getan«, flüstert sie und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie streicht sich die Haare aus der blassen Stirn.
»Doch«, sage ich und schaue sie fest an. Habe ich eigentlich nie gesehen, wie hübsch sie ist? Selbst jetzt, in dieser erbärmlichen, beschissenen Situation?
Sie steht auf und geht zu Meteor. »Verzeih mir«, stößt sie mühsam hervor und lehnt sich weinend an seinen Hals. Ich lasse sie beide. Meteor, der alles verzeiht, auch ihr, und sie schnaubend beruhigt; und Tanja, die ich zum ersten Mal lachen sehe. Wenn auch unter Tränen.
Damos ist einfach nur fertig. Er steht ruhig da und stört sich nicht einmal an dem drohenden Unwetter über uns. Nur ab und zu läuft ein kurzer Schauer über sein Fell.
»Ich bin so müde«, sage ich nach ein paar stillen Minuten. Meine Augenlider sind wie Blei, aber meine Gedanken explodieren immer noch.
»Ich auch«, seufzt Tanja und setzt sich neben mich. Über uns kracht der Donner.
»Sie suchen uns wahrscheinlich schon.«
»Schau mal, da hinten.« Ich zeige zu einer Nische in der Felswand rüber. Sie blickt mich fragend an. Noch immer laufen ihr die Tränen herunter.
»Komm«, sage ich und bewege mich mühsam auf die Felswand zu. Sie folgt mir zögerlich. Der Boden in der Nische ist mit weichem Moos überzogen. Hier passen genau zwei Menschen nebeneinander. Ich lege mich vorsichtig hin.
»Wir müssen schlafen«, sage ich ruhig.
Tanja lässt sich neben mir zu Boden sinken. Nun zittert sie nicht mehr so stark. Ich stütze mich auf meinem gesunden Ellenbogen auf und schaue sie an.
»Mach das nie wieder. Hast du verstanden?«
Sie nickt stumm. Dann fallen ihr die Augen zu.
Mein Körper schläft, aber mein Kopf ist wach. Ich höre den Donner und das Prasseln des Regens auf dem Felsen über uns.
Ich habe mich verliebt.
»Da sind sie ja …«
»Was machen die hier nur?«
»Schlafen die?«
»Ja, ich glaub, die schlafen …«
Es dauert, bis ich begreife, dass diese Stimmen nicht zu dem Gedankenwirrwarr in meinem Kopf gehören, das in den vergangenen Minuten weicher und angenehmer wurde. Es kostet mich Überwindung, die Augen zu öffnen. Mehrere Köpfe lugen besorgt in unsere Nische hinein. Ich erkenne Toni, Marc, Anne, Sid und Anja. Die Stoppelhaare da hinten müssten Freddie gehören. Ich boxe Tanja leicht meinen Ellbogen in die Seite und bereue es in der gleichen Sekunde. Der Schmerz ist wieder da. Fluchend versuche ich, das Pochen im Arm zu unterdrücken. Tanja kommt langsam zu sich.
»Tom! Was ist passiert? Was macht ihr hier nur?« Tanja wird unruhig und versucht, sich aufzurichten. Ihr scheint genauso schwindlig vor Müdigkeit zu sein wie mir. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier gelegen haben. Das Gewitter ist weggezogen. Die Wiesen dampfen vor Feuchtigkeit. Noch immer ist es sehr warm.
Was passiert ist? Soll ich das wirklich erzählen? Niemals.
»Wir hatten was zu bereden«, sage ich schnell, bevor Tanja den Mund aufmachen kann. »Dann fing es an zu gewittern und wir haben hier Unterschlupf gesucht.«
Ich linse an den Köpfen vorbei. Meteor und Damos stehen auf dem Plateau unter ein paar Tannen und warten auf uns. Die beiden sind also okay.
»Ihr seid hier mit den Pferden!«, zetert Toni vorwurfsvoll. »Und das war verboten!«
»Ja, ich weiß, verboten«, seufze ich und richte mich auf. Es war so einiges verboten
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