Sturmtief
erwiderte Frau Seibert. »Soweit es uns
möglich war. Andrea Filipi ist tatsächlich auf der Lufthansa-Maschine abends um
Viertel vor sieben über Frankfurt nach Rom gebucht gewesen.«
»Dann sollten Sie umgehend die Bundespolizei in
Fuhlsbüttel verständigen«, unterbrach Lüder sie. »Vielleicht wählt der Täter
erneut den Fluchtweg über den Hamburger Flughafen.«
»Mach ich«, versicherte Frau Seibert.
Das war eine erfreuliche Entwicklung, wenn die Spur
auch noch sehr vage war. Dieser Hinweis zeigte, dass die Polizei kein Phantom
jagte, sondern einen Mörder, der nach der Tat trotz aller Kaltblütigkeit eine
wohlgeplante und kontrollierte Flucht angetreten hatte. Da der Flug im Voraus
gebucht war, musste Filipi – oder wie immer der Täter hieß – die Tat sorgfältig
vorbereitet haben, auch wenn die Durchführung wie eine spontane Aktion aussah.
Lüder betrachtete erneut das Foto auf seinem
Bildschirm – das Tor zur GKSS in
Geesthacht. Dr. Feldkamp hatte in Verbindung mit dem Forschungsinstitut
erwähnt, dass es Gerüchte um einen Vorfall gab, der sich auf dem Gelände der GKSS abgespielt haben sollte.
Er griff zum Telefon und rief in der Praxis des
Kinderarztes an. Lüder musste ein paar Minuten warten, bis sich der Arzt
meldete.
»Ich bin noch beschäftigt«, erklärte Dr. Feldkamp,
»möchte aber Ihre Fragen gern beantworten. Treffen wir uns in zwei Stunden?«
»In Ihrer Praxis?«
Der Arzt lachte auf. »Dann komme ich hier nie heraus.
Nein! In der Fußgängerzone, ein Stück weiter in die andere Richtung, gibt es
ein Stehcafé, das zu einer Bäckerei gehört. Es ist eine Art gläserner Pavillon
mit einem auffälligen spitzen Zeltdach. Unübersehbar. Bis dann«, sagte der Arzt
und legte auf.
Lüder sah auf die Uhr. Zu gern hätte er auch noch die GKSS aufgesucht. Sicher würde es
schwierig werden, am Freitagnachmittag jemanden zu erreichen. Ein englischer
Freund hatte einmal erstaunt festgestellt, dass die Deutschen nicht länger,
sondern öfter arbeiten müssten. Zu oft hätten Institutionen und Unternehmen
geschlossen. Es gehörte mittlerweile zum guten Ton, dass Wirtschaft und
Verwaltung ab Freitagmittag in den lethargischen Wochenendschlaf verfielen.
Deshalb war Lüder erstaunt, als er nach längerem Bemühen noch einen Termin beim
Forschungsinstitut bekam. Herr Dr. Bringschulte würde ihn erwarten, versicherte
ihm eine Frauenstimme.
Lag es an der Jahreszeit oder am Wetter? Lüder hatte
für den Weg an die Elbe weniger Zeit benötigt, als er kalkuliert hatte. Sein BMW stand auf dem Oberdeck des
Einkaufszentrums, und Lüder stand unschlüssig in dem einem Torbogen
nachempfundenen Bauwerk, das den Zugang zum Kaufparadies markierte. Für einen
Freitagnachmittag war erstaunlich wenig Betrieb in der Fußgängerzone. Sicher
trug das unwirtliche Wetter dazu bei. Vom viel besungenen goldenen Oktober war
heute nichts zu sehen.
Lüder schlug den Kragen seiner Jacke hoch, drückte auf
den Knopf am Griff seines Regenschirmes, dass sich das Gestell mit dem Stoff
spannte, und stapfte die Bergedorfer Straße entlang. Nach wenigen Schritten sah
er den Pavillon, den Dr. Feldkamp beschrieben hatte. Von dem Arzt war noch
nichts zu sehen. Ein Stück weiter stieß er an einer Straßenecke auf ein Haus,
das sich wohltuend von den einfallslosen Betonbauten der Jahre des Aufbruchs
abhob. Das Gebäude – Lüder schätzte die Herkunft auf die zwanziger Jahre des
letzten Jahrhunderts – beherbergte einen Tabakladen. Die Werbung für die bei
Kindern beliebte »Diddl-Maus« – sie behauptete, die Figur würde aus Geesthacht
stammen – erinnerte Lüder an seine eigenen Kinder. Eltern durften dankbar sein,
wenn der Nachwuchs gesund war und von unvorhersehbaren Ereignissen verschont
blieb. In der Region rund um Geesthacht gab es Familien, denen dieses Glück
nicht beschieden war. Dagegen wehrte sich der engagierte Kinderarzt Dr.
Feldkamp.
Hatten die zahlreichen individuellen Schicksale das
Interesse der beiden Journalisten geweckt? Waren sie fündig geworden und hatten
dafür mit dem Leben bezahlen müssen? Lüder ertappte sich dabei, wie er den Kopf
schüttelte, sodass ihn eine entgegenkommende Frau mit einem fragenden Blick musterte.
Nein! Er konnte sich nicht vorstellen, dass in Deutschland der Schutz
wirtschaftlicher Interessen ein so starkes Motiv sein konnte, dass dafür
Menschen hatten sterben müssen.
Auf dem Vordach des Zeitungsladens war die Figur eines
Indianerhäuptlings angebracht. Die Rothaut hielt
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