Sturmwarnung
verschwinden würden, und die
Öffentlichkeit Zeit genug hätte, um sich den neuen Bedingungen anzupassen.
Unrecht im eigentlichen
Sinne hatten sie nicht. Das Wetter würde in jedem Fall auf Jahre hinaus
verrückt spielen. Aber sie waren einfach nicht in der Lage, sich vorzustellen,
mit welcher Urgewalt dieser Prozess einsetzen würde. So etwas lag zu weit
außerhalb ihrer, ja, aller menschlichen Erfahrung.
Niemand
hatte in geschichtlicher Zeit erlebt, geschweige denn festgehalten, welche
Zerstörungen die entfesselte Natur anrichten kann. Niemand konnte sich einen
Begriff davon machen.
Aber dann
geschah etwas, das jedem Wissenschaftler, der sich mit diesem Problem befasste,
die Sprache verschlug. Die Fachleute waren regelrecht gelähmt, als ihnen
dämmerte, was die Daten bedeuteten. Aus einem kleinen Inuit-Dorf in Nordkanada
war gemeldet worden, dass es in einer einzigen Stunde einen Temperatursturz von
40 Grad Celsius gegeben hatte.
Das ließ
nur einen Schluss zu.
Bisher war
die Vorstellung, dass die Zirkulation des Sturms so gewaltig sein konnte, dass
er sogar extrem abgekühlte Luft ansaugte, ein Thema für wissenschaftliche
Übungen gewesen, aber kein echtes Problem.
Doch genau
das war sie jetzt.
Wissenschaftler
an verschiedenen Zweigstellen der NOAA im nördlichen Teil der USA begannen in aller Stille Vorkehrungen für den
Umzug ihrer Familien in den Süden zu treffen und fragten schon mal Freunde und
Verwandte in Texas, Florida, Südkalifornien und den Wüstengebieten, ob sie sie
unterbringen könnten.
So begann die größte
Völkerwanderung der Menschheitsgeschichte. Es waren zunächst nur ein paar Autos
mehr, die sich in den üblichen Verkehrsfluss einreihten.
Die Winde
beschleunigten sich in der gesamten Arktis. Ein gewalttätiger Sturm nach dem
anderen tobte, schraubte seine Wolkenspitzen in nie da gewesene Höhen, um
sofort vom nächsten überboten zu werden.
Die
Wetterdienste der USA und Kanadas leiteten Notfallmaßnahmen ein. In einer Serie
von Konferenzen regelten die zwei für Wetterkatastrophen zuständigen
US-amerikanischen Ämter EMWIN und FEMA alle nötigen Schritte, um die Bevölkerung auf eine, wie man jetzt mit
Sicherheit wusste, dramatische Störung vorzubereiten.
Die
Einwanderungsbehörde wurde vom Präsidenten in Kenntnis gesetzt, dass die Grenze
zwischen den USA und Kanada ab sofort für Flüchtlinge geöffnet war und
Nahrungsmittel rationiert wurden. Notunterkünfte und Behelfsküchen wurden
eingerichtet. Vertreter der FEMA überraschten
manchen Behördenchef, als sie landesweit dazu aufriefen, Schulen und sonstige
öffentliche Gebäude als Notunterkünfte zur Verfügung zu stellen. Lebensmittel
und Medikamente wurden zu den jeweiligen Ausgabestellen geschafft. Etwas
unauffälliger stellte man auch Leichensäcke bereit – allerdings nur einige
hunderttausend.
So richtig
klar war die Lage niemandem. Sogar jetzt noch nicht.
Eine Reihe
von Regierungsmitgliedern hielt diese Vorkehrungen für ausgemachten Unsinn, und
es dauerte nicht lange, bis sämtliche Details zu den Direktoren der Blue Foundation durchsickerten, einer
Expertenkommission mit hohem Einfluss im Kongress.
Abgeordnete begannen,
unangenehme Fragen zu stellen: Was wurde da gespielt? Warum und wofür wurde all
das Geld ausgegeben? Welche Etats waren betroffen? Der Rechnungshof wurde damit
beauftragt, die Vorkehrungen der FEMA zu überprüfen. Aus Furcht, die EMWIN könnte ähnlich bloßgestellt
werden, legte die NOAA deren Pläne auf Eis.
Folglich
wurden in den Notunterkünften keine Lebensmittelvorräte angelegt, auch wurden
die Krankenhäuser nicht über eine mögliche Krise in Kenntnis gesetzt. Das
Internationale Rote Kreuz und die Weltgesundheitsorganisation wurden im Dunkeln
darüber gelassen, dass sich die dramatischste
Klimaveränderung der Weltgeschichte anbahnte, und das schnell.
Das Wetter
scherte sich freilich nicht im Geringsten um die Machenschaften der politischen
Strategen von der Blue Foundation.
Der erste
Hilferuf kam aus Nordkanada. Strenge Winter waren dort der Normalfall. Von
Oktober bis April fegte dort seit jeher eine Polarfront nach der anderen über
das Land hinweg. Man war Kälte gewohnt und ließ sich von Februarstürmen nicht
beeindrucken. Doch mit dem, was sich jetzt in den Northwest Territories
abzeichnete, hatte niemand Erfahrung.
In den letzten
Jahren hatten sich die Temperaturen so sehr erwärmt, dass nun der
Permafrostboden auftaute. Wie überall dort, wo der Polarkreis besiedelt
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