Sturmwelten 01
waren lang, denn die Sonne kroch gerade erst über den Horizont, und Anui war noch halb in der Dunkelheit gefangen. In der Nacht hatten viele nicht schlafen können. Auch Majagua hatte nur kurz geruht und unruhig geträumt, und sein Geist war nun erfüllt von Sorgen. Wohin er auch blickte, er sah nur bedrückte Mienen und ängstliche Gesichter. Hier und da fanden sich auch Gruppen zusammen, flüsterten miteinander, warfen argwöhnische Blicke auf andere. Misstrauen und Angst herrschten unter den Paranao. Ohne sie zu hören, wusste Majagua, was sie sagten und dachten: Einer muss es gewesen sein. Seinetwegen müssen wir alle sterben. Wer ist es? Er wollte sie packen und schütteln, ihnen ins Gesicht schreien, dass es Tangye war, den sie hassen sollten, nicht der vorgebliche Dieb. Doch er blieb still und beobachtete die anderen nur.
»Sie haben Angst«, flüsterte Dagüey.
»Wir haben alle Angst. Aber manche würden ihrer Angst am liebsten ein zu großes Opfer bringen«, entgegnete Majagua bitter.
»Du musst sie verstehen. Sie wollen nicht sterben, und sie haben nichts getan, um den Tod zu verdienen. Sie haben immer gehorcht, weil sie dachten, dass sie dann sicher sind.«
»Vielleicht verstehen sie jetzt endlich, dass es keine Sicherheit gibt, weil die Blassnasen Anki sind.«
Müde schüttelte der Alte den Kopf: »Nein. Böse Menschen sind die Diebe, derentwegen sie Angst haben müssen. Verstehst du das nicht? Sie wollen nicht, dass Tangye böse ist. Denn sonst können sie gar nichts mehr tun, um ihr Schicksal zu ändern.«
»Sie können ohnehin nichts tun!«, brauste der junge Paranao auf. »Sie sind Sklaven und Tangyes Willkür jederzeit ausgeliefert. Sie können nichts tun, genauso wenig wie du. Oder wie ich.«
»Wie soll man das begreifen, Majagua? Wie soll man damit leben?«
Majagua wartete darauf, dass der Ältere ihm einen Rat gab, einen Weg aufzeigte, doch er schwieg. Es gab keinen Weg; Tangye würde kommen, und sie konnten ihn nicht aufhalten.
Zwischen zwei Hütten stand Bara mit seinen Gefolgsleuten. Sie blickten sich finster um, und Bara selbst funkelte Majagua an. Es gab keine Frage, wen der Krieger wohl Tangye geopfert hätte, wenn er die Wahl gehabt hätte. Doch die Krieger hatten entschieden, und Bara würde sich ihrem Entschluss nicht entgegenstellen, da war sich der junge Paranao sicher.
»Er wird noch Ärger machen«, sprach Dagüey Majaguas Gedanken aus. »Er ist ein junger Hitzkopf. Davon gibt es viele.«
Der Blick des Alten zu ihm gefiel Majagua nicht. Unvermittelt löste sich Bara von der Gruppe und kam auf Majagua zu. Der Krieger baute sich vor ihm auf und atmete tief ein.
»Bald kommen die Blassnasen. Was werden wir tun, Guaili?«
»Ich bin kein kleiner Junge, Bara, ich bin ein Krieger, genau wie du.«
»Was wirst du tun, Krieger ?« Seine Stimme troff vor Gehässigkeit, doch Majagua verschloss sein Herz und ließ nicht zu, dass es ihn berührte.
»Wir werden sehen, was sie tun.«
»Das ist alles? Du willst bloß zusehen?«
Majagua schwieg. Sein Vater hatte ihn dazu erzogen, ein Krieger zu sein. Auch wenn er keinen Speer hatte, um sich zu verteidigen, und keinen Schild, um die anderen zu beschützen, blieb er doch ein Krieger der Paranao. Er wusste, welchen Weg er beschreiten musste, wenn Tangye kam, auch wenn ihm der Gedanke daran Angst machte. Langsam richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, straffte die Schultern und blickte Bara ruhig an.
»Ein guter Plan. Zusehen, wie die Blassnasen uns alle abschlachten. Der Plan eines Feiglings!«
Jetzt ließ Majagua den Kopf rollen. Die traditionelle Geste der Herausforderung verfehlte ihre Wirkung nicht. Auch Bara streckte die Schultern nach hinten, hob die Hände vor die Brust und rollte den Kopf vor und zurück. Ein Kribbeln lief durch Majaguas Leib. Ein Kampf. Endlich konnte er handeln, endlich etwas tun.
»Setzt euch, ihr dummen Jungen!«, zischte Dagüey. »Wollt ihr euch gegenseitig umbringen, damit Tangye es nicht tun muss?«
Einen Augenblick schien es, als ob die beiden Krieger die Worte überhaupt nicht wahrnahmen. Doch dann zeigte die Schelte Wirkung. Scham stieg Majagua ins Gesicht, lief rot brennend über seine Wangen. Man musste die Alten respektieren, ebenso wie die Ahnen. Und in den Worten Dagüeys steckte zu viel Wahrheit, als dass der junge Paranao sie einfach hätte abtun können.
»Es ist kein guter Plan«, gestand er leise. »Aber es ist der beste, den ich habe. Oder sollen wir Tangye geben, was er
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