Sturmwelten 01
Diebstahl, Herr«, erwiderte Sinao und senkte den Blick, wie eine gute Sklavin es tun sollte. Es dauerte Momente, bis Majagua ihre Worte verstand. Die Zeit schien so träge dahinzufließen, dass die Worte sich darin auflösten wie Schaum auf den Wellen.
»Es gab keinen Diebstahl.« In ihrer Stimme lag Unterwürfigkeit, Angst, Flehen.
Tangye lachte rau. »Die Vorräte werden zu schnell aufgebraucht. Du hast es selbst gezählt, nicht wahr?«
»Das stimmt, Herr. Und Ihr habt die Sklaven gezählt.«
»Ja. Zu viel Essen fehlte.«
»Alle Sklaven?«
»Was meinst du?« Der mächtige Tangye war unsicher, Majagua spürte es in seinem Inneren.
»Auch alle, die nicht arbeiten können? Die Kranken und Schwachen?«
Wieder wurde es still. Die Macht ihrer Worte wusch über den jungen Paranao hinweg. Langsam wälzte er sich auf den Rücken, blickte zu Tangye empor, der wie ein gewaltiger Turm über ihm aufragte. Die Kiefer des Aufsehers mahlten, er strich sich mit einer Hand über das unrasierte Kinn. Jeder konnte die Antwort in seinen Bewegungen sehen, doch der junge Paranao konnte nicht glauben, dass Tangye sich diese Blöße geben würde. Er wird Ja sagen und mich töten .
Stattdessen wandte der Aufseher sich ab und schritt schnell, fast hektisch durch die Reihen seiner Untergebenen, die ihm verwirrt folgten. Sein Blick war unstet, so als ob er vergessen habe, was ihn noch eben angetrieben hatte. Vollkommen überrascht, guckte Majagua ihnen nach, wie sie aus dem Lager marschierten und die Tore verschlossen. Das Geschehnis war so unfassbar, dass er immer noch jeden Moment mit dem ersten Peitschenhieb rechnete. Doch stattdessen trat Sinao zu ihm, kniete neben ihm nieder und wischte ihm den Staub aus dem Gesicht. Auf ihrer Haut konnte er noch die feuchten Pfade sehen, die ihre Tränen hinterlassen hatten, und ihre Augen waren gerötet, doch sie lächelte. So nah hatte er ihr Antlitz noch nie gesehen, und er staunte über ihre dunklen Augen, in denen helle Einsprengsel im Sonnenlicht funkelten.
»Es ist vorbei.«
»Aber …?«
»Ein Fehler«, meinte sie mit Nachdruck. »Es war ein einfacher Fehler. Tangye hat nur die Zahlen der arbeitenden Sklaven genommen, nicht die aller Sklaven. Sie interessieren ihn nicht, nur die Arbeiter sind für ihn wichtig. Es ist mir aufgefallen, als alle hier versammelt waren, dass es mehr Sklaven sind, genug, um die geschwundenen Vorräte zu erklären«, sprudelte es nur so aus ihr heraus.
Majagua blinzelte, sah in ihren schönen Augen die Lüge. »Warum ist er einfach gegangen?«
Endlich hatte Sinao die Fesseln gelöst. Vorsichtig streifte Majagua die Seile ab und erhob sich. Seine Schultern schmerzten, und in seinen Fingern pochte das Blut. Als erwache er aus einem Traum, blickte er sich um. Die Sklaven standen noch um sie herum; keiner sprach, alle starrten ihn an. Als wäre ich ein wandelnder Toter, dachte Majagua und grinste. Womit sie nicht ganz unrecht haben!
»Er hat einen Fehler gemacht«, erklärte Sinao. »Vor seinen eigenen Leuten. Vielleicht hat er sich geschämt?«
»Er hätte dir nur widersprechen müssen. Niemand hätte dir geglaubt«, entgegnete Majagua, doch plötzlich war er sich nicht mehr sicher.
»Aber es war falsch.«
Kopfschüttelnd sah Majagua sie an. In ihren Worten lag mehr als nur Trotz. Sie waren mit der Gewissheit gesprochen, die Berge an die Welt fesselte und die Anuis Licht jeden Morgen auf ein Neues aufgehen ließ. Gewissheit, die keinen Widerspruch duldete. Niemand im Lager zweifelte an ihren Worten. »Du hast das bewirkt«, meinte er, als er langsam begriff. »Du hast ihn mit Mojo belegt.«
Sinao hatte die Augen weit aufgerissen. Leise sagte sie: »Ich weiß es selbst nicht.«
Da lächelte Majagua, um ihr zu zeigen, dass es ihm egal war. Sie hatte ihn gerettet, sie war mutig und stolz gewesen, eine Paranao wie aus den alten Geschichten. Ihm war egal, ob sie Mojo benutzte oder nicht. Und Sinao erwiderte sein Lächeln, und einen Augenblick lang vergaß er darüber alles andere.
Langsam atmete er schließlich aus und wurde wieder er selbst. Die Ruhe verließ ihn, ebenso wie die Gewissheit, was die Zukunft bringen würde. Aus dem lebenden Toten wurde erneut ein Mensch, und seine Ängste kehrten zurück.
»Was tun wir jetzt? Sie sind einfach gegangen? Was ist mit Essen? Was mit Wasser? Wohin …«, hastete er durch viele Fragen, doch Sinao schüttelte den Kopf.
»Für jetzt sind wir sicher. Sie sind fort. Wir haben keine Arbeit. Lass uns in den Schatten
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