Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
sein.
Im zarten Licht der Morgenröte sah die Maestra eine Stadt aus der Dunkelheit auftauchen. Vor dem hellen Streifen erhoben sich dunkle Gebäude, die aus der Höhe winzig wirkten. Je höher die Sonne stieg, desto mehr Einzelheiten konnte Tareisa erkennen. Das Licht spiegelte sich auf der Oberfläche eines Flusses, der sich durch die Stadt wand. Die Häuser standen dicht an dicht, und vor allem die spitze Form ihrer vierseitigen Dächer war auffällig.
Der Drache hielt genau auf die Stadt zu. Noch immer flogen sie durch Wolken, die Tareisa die Sicht nahmen, aber jedes Mal, wenn sie einen Blick auf die Stadt erhaschte, waren sie ihr deutlich näher gekommen. Sie war groß, mit vielen Straßen und Hunderten, wenn nicht Tausenden von Häusern. Eine Mauer war um sie gezogen, aber in einige Richtungen war sie darüber hinausgewachsen, und Vororte waren ins Land hineingewuchert. Nun konnte die Maestra auch mehr Details erkennen – viereckige, hohe Türme, goldene Dächer, leuchtend rote Prachtbauten.
Tareisa konnte den Blick nicht abwenden, so faszinierend war es, diese Stadt von oben zu betrachten. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, durch ihre Straßen zu laufen, inmitten der Gebäude. Von oben wirkte alles so klein und fern, so flächig und erdgebunden, während die Stadt eigentlich eine gewaltige Metropole sein musste, die gewiss jeden Besucher beeindruckte.
Dass die Stadt ihr Ziel sein musste, war deutlich. Der Drache hielt zwar seine Höhe, steuerte aber genau auf die Metropole zu. Als sie über die Stadtmauer flogen, lehnte sich die Kreatur abrupt zur Seite, kippte, legte dann beide Flügel an und sank so schnell in Richtung Erdboden, dass Tareisa schlagartig übel wurde. Die mit Schindeln gedeckten Dächer rasten auf sie zu, schon konnte die Maestra auf den Straßen Menschen und Fuhrwerke erkennen, sah Gesichter, die zu
ihnen hinaufblickten, mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen. Dort unten riefen sicherlich Menschen, doch in Tareisas Ohren rauschte nur der Wind, der jedes andere Geräusch verschluckte.
Unvermittelt öffnete der Drache seine Flügel zur vollen Größe und bremste ihren Sturz. Der Ruck ging Tareisa durch Mark und Bein, und die Klaue packte sie für einen Moment fester, als drohe die Maestra der gewaltigen Kreatur zu entgleiten. Ihr wurde schwindlig, die Gebäude rasten direkt unter ihnen her, Hausdächer, Gärten, Straßen, Gassen, alles so schnell, dass sie es kaum ausmachen konnte.
Dann schlug der Drache mit den Flügeln und richtete sich dabei auf. Ein düsteres Gefühl überkam Tareisa, und es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie erkannte, was der Eindruck zu bedeuten hatte. Sie befanden sich in der Nähe der Ladung.
Ihr Flug verlangsamte sich, und der Drache schwebte nun wild flügelschlagend über einem ummauerten Platz, der sich an ein großes, schmuckloses Gebäude anschloss. Viele Menschen standen auf dem Hof verteilt und blickten zu ihnen empor, aber der Drache machte so viel Wind und wirbelte damit Staub auf, dass Tareisa keine Einzelheiten erkennen konnte.
Als sie recht dicht über dem Boden angelangt waren, öffnete die Kreatur ihre Klaue und ließ Tareisa einfach fallen. Sie stürzte nicht einmal zwei Meter tief, aber sie schlug so hart und unglücklich auf, dass sie scharf einatmete. Direkt über ihr senkte sich der Drache zu Boden und landete weitaus sanfter. Er trat zwei Schritte zur Seite, und sein Schatten wich von Tareisa, die sich vorsichtig aufrappelte.
»Ich hoffe, du bist nicht verletzt?«, erkundigte sich eine tiefe Stimme aus der Staubwolke. Der melodiöse Ton der Frage sandte einen Schauer durch Tareisas Leib, als sie ihn
erkannte, aber sie zwang sich dazu, ihre Furcht und Verwirrung nicht allzu deutlich zu zeigen.
Als der Staub sich langsam legte, stellte Tareisa fest, dass sie mit ihrer Vermutung Recht gehabt hatte. Es war der Mann von der Todsünde , der ihr nun erneut gegenüberstand, in ein goldenes Seidengewand gehüllt, die Hände vor der Brust gefaltet. Sein Antlitz war regungslos.
»Nicht allzu sehr«, erwiderte Tareisa, so ruhig sie konnte, und er nickte ihr zu. Einen Moment lang hielten sie Augenkontakt, dann wandte er sich an den Drachen. Der gewaltige Kopf des Wesens senkte sich herab, und der Mann legte ihm eine Hand auf die geschuppte Haut. Fasziniert beobachtete Tareisa, wie beide gleichzeitig die Augen schlossen. Er ist mit ihm im Bunde, erkannte sie, und der Gedanke nötigte ihr trotz allem Respekt ab.
Sie
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