Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
ungerührt. »Wir verschwinden, bevor es jemand merkt. Die meisten Leute an Bord sind ja ohnehin nicht so scharf auf unsere Gesellschaft, da wird es einen Moment dauern, bevor überhaupt jemand mitbekommt, dass wir nicht mehr da sind. Wir können uns ein Schiff suchen, für eine Passage anheuern. Weg von Lessan. Nach Portosa vielleicht. Da findet sich schon ein ordentliches Schiff. Wir ändern unsere Namen, tauchen unter und bleiben unauffällig, bis sich unsere Spur im Meerwasser verliert.«
Mit einem Kopfschütteln folgte Sinao seinen Erklärungen. Manoel sah ihr Unverständnis, senkte die Stimme und flüsterte: »Sin. Sin, denk nach! Thyranes kurze Fahrt ist zu Ende. Die Compagnie kann niemanden brauchen, der Zeuge dessen geworden ist, was auf Rosarias los war. Und diese Bailiff hat uns genau gesehen und bestimmt nicht vergessen, welche Rolle wir bei der ganzen Sache gespielt haben.
Die Thayns hier an Bord, die werden schön schweigen, weil es sie sonst ihre Karriere kostet. Oder gleich ihren Kopf. Bleiben also nur noch wir, Sin. Zwei schräge Vögel, die irgendwie mit Piraten in Verbindung standen, die auf Lessan gesucht wurden, und die Soldaten auf dem Gewissen haben. Was denkst du, was sie mit uns machen? Die nehmen uns fest, machen uns den Prozess – wenn wir Glück haben. Du kennst die Compagnie. Du weißt, was sie mit Leuten wie uns tun.«
Sinao musste an die Holzbalken an dem Fort denken, vor scheinbar so langer Zeit auf der Insel Hequia, an die Paranao, die dort baumelten, an ihre Gesichter, wie sie sich blauviolett verfärbt hatten. Sie musste daran denken, wie Haut unter Tangyes Peitsche aufplatzte. Sie sah Majaguas blutiges Lächeln vor sich. Majagua, den die Compagnie nicht hatte
gehen lassen. In ihr keimte ein Entschluss, kälter als alles, was sie kannte.
»Ich komme mit dir«, erklärte sie. »Wenn du Recht hast.«
»Natürlich habe ich Recht.«
»Ich will aber erst mit dem Kapitän reden. Packst du meine Sachen? Es ist ja nicht viel. Warte hier auf mich. Wenn du Recht hast, komme ich mit.«
Auf seinem Gesicht kämpften die widerstreitenden Gefühle miteinander, aber schließlich nickte er stumm.
Dann schenkte er ihr doch eines seiner schnellen Lächeln. »Du bist verrückt, Sin, aber das weißt du, nicht wahr?«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Nicht verrückt. Aber ich will sie nicht gewinnen lassen, Mano. Verstehst du das nicht? Ich will Rache üben, Tropfen für Tropfen Blut zurückgezahlt haben, Leid für Leid. Ich laufe nur davon, um wiederzukommen. Und solange ich kämpfen kann, werde ich gar nicht laufen.«
Er zuckte vor der Kälte ihrer Worte zurück.
»Hast du denn irgendeinen Plan?«
»Ich muss mit dem Kapitän reden. Er darf Admiral Thyrane nicht im Stich lassen.«
Sie drehte sich um und rannte zurück, durch die Reihen der Seeleute, die ihr verwundert nachsahen, ein Halbherz-Mädchen, das keine Angst mehr haben konnte.
Vor der Tür des Kapitäns stand ein Soldat Wache. Mit klopfendem Herzen hielt Sinao an.
»Ich möchte Kapitän Bercons sprechen.«
»Tut mir leid, Kleine, aber er hat Besuch. Später vielleicht«, wies sie der Mann mit der roten Uniform nicht unfreundlich ab. Sinao zögerte kurz. Die Männer und Frauen aus der Stadt mussten noch beim Kapitän sein. Vielleicht verhandelten sie noch. Vielleicht war es noch nicht zu spät.
Sie lächelte den Soldaten an, nickte, trat drei Schritte auf ihn zu – und sprang dann vor. Sein verdutztes Gesicht gab
ihr Hoffnung, aber er bewegte sich schnell, wollte ihr in den Weg treten.
Doch dann wurden seine Bewegungen langsam, so langsam, dass Sinao sie kaum noch wahrnehmen konnte. Vigoris strömte durch sie hindurch, prickelte in ihrer Brust, strich über ihre Haut und sandte einen Schauder ihren Rücken hinab. Sie duckte sich unter den ausgestreckten Armen des Mannes hindurch und stieß die Tür auf. Die Sekunden verstrichen langsam, so viel langsamer als gewohnt. Erst, als sie mitten in der Kajüte des Kapitäns stand, beschleunigte sich der Lauf der Zeit wieder.
Köpfe fuhren zu ihr herum. Der Soldat hinter ihr rief Sinao etwas zu. Kapitän Bercons saß an einem Tisch, ihm gegenüber ein Mann und eine Frau, sie in ordentlichem Hemd und Hose, er in Uniform. Die Frau war noch jung, wohingegen der Mann gewiss doppelt so alt wie Sinao selbst war. Der Kapitän erhob sich, während Sinao die Hand des Soldaten auf ihrer Schulter spürte, schwer und fest.
»Ich muss dich sprechen, Käpt’n«, brachte sie hervor, ihre Zunge noch
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