Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
riefen, und im dichten Getümmel kam es zu Zusammenstößen. Ein Korb mit grünem Obst darin fiel herab, und die kindskopfgroßen Früchte kullerten über die Straße. Zwischen ihnen, goldgelb und flink, entdeckte sie eine kleine, geflügelte Gestalt, doch im dämmrigen Licht war es schwer, mehr zu erkennen.
Dann löste sich die Gestalt vom Ufer und hielt in einem wilden Zickzackkurs auf die Siorys zu. Eine kleine Echse, erkannte Roxane. Sieht fast wie Sinosh aus. Ob es die hier auch gibt?
Erstaunt betrachtete Roxane die Echse, die nun weitaus mehr wie ein Miniaturdrache wirkte, der Kreatur, welche ihr Schiff angegriffen hatte, sehr ähnlich. Unwillkürlich musste sie daran denken, was Jaq ihr über seinen Begleiter erzählt hatte.
Sie hörte Rufe, als das Wesen noch näher kam, und aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Wachen an der Laufplanke ihre Musketen hochrissen und anlegten.
»Nicht feuern! Und Ruhe!«, donnerte ihre Stimme über das Deck und ließ die Mannschaft verstummen.
Der im Verhältnis so winzige Drache glitt elegant durch die Luft, neigte sich leicht zur Seite, um das Achterdeck anzusteuern, dann wurde er von einem Windstoß erfasst und herumgewirbelt. Seine Flügel schlugen hastig, sein Leib wand sich, und er trudelte herab. Mit einem verzweifelten Flügelschlag schoss er noch einmal ein Stück hoch, dann prallte er gegen eine Backstag und klammerte sich daran fest, wobei sich sein langer, geschmeidiger Leib um das Tau wickelte.
Mehrere Matrosen liefen neugierig auf den kleinen Besucher zu, und einige versuchten sogar, nach der Echse zu
greifen. Doch statt sich fangen zu lassen, zischte das Wesen zwischen den Beinen einer stämmigen Matrosin hindurch und kam hinter dem Ruder außer Sicht, nur um dann oben auf dem Steuerrad wieder aufzutauchen, wo der Rudergänger sie verblüfft anstarrte. Die Echse indes wurde nicht langsamer, sondern stieß sich von dem hölzernen Rad ab, breitete die Vordergliedmaßen aus – und flog auf Roxane zu, um sich vor ihr auf der Reling niederzulassen.
»Sinosh?«, fragte die Kapitänin leise. Sie wusste, dass Dutzende von Blicken auf ihr ruhten und dass die Besatzung alles, was nun geschah, gierig aufsaugen würde.
Die kleine Echse baute sich auf der Reling auf und fixierte Roxane mit einem unergründlichen Blick aus goldenen Augen. Sie schien zu überlegen, dann legte sie die Krallen der Flügel vor der schmalen Brust aneinander und senkte den Kopf.
»Du bist tatsächlich Sinosh«, erkannte die Kapitänin erleichtert. Der kleine Drache hob den Kopf, legte ihn schief, dann hielt er sich eine krallenbewehrte Pfote in einer akzeptablen Imitation eines Saluts an den Kopf. Die Geste war so seltsam, dass Roxane lachen musste. Sie salutierte zurück. Jaq hat nicht gelogen. Sinosh ist ein vernunftbegabtes Wesen. Und er versteht Spaß!
»Willkommen an Bord.«
Überall begann das Getuschel, und Roxane konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie die abergläubischen Matrosen auf die Ereignisse reagieren würden. Mehr und mehr von ihnen kamen mittlerweile an Deck, angelockt von den Gerüchten, die auf einem Schiff immer am schnellsten zu reisen schienen.
Mit einem Ruck stieß Sinosh sich ab, sprang das kurze Stück zu der Kapitänin hinüber, erreichte Roxane, die unwillkürlich zurückzuckte, und kletterte behände an ihrer Uniform empor, bis er wie eine besonders ausgefallene Epaulette auf
ihrer Schulter Platz nahm. Seine Schuppen schmiegten sich warm gegen ihren Hals, und sie spürte, wie sich sein Schwanz um ihren Kragen legte und träge über die andere Schulter strich. Sein Atem war leicht auf ihrer Haut, aber sehr warm, und sie konnte seinen trockenen Geruch in der Nase spüren.
»In der Tat, Thay, das ist doch der kleine Freund des Hiscadi, nicht wahr? Was für ein seltsamer Zufall«, sagte Groferton.
Auch wenn die Krallen kratzten, war es kein unangenehmes Gefühl, Sinosh auf der Schulter sitzen zu haben. Aber dennoch – jetzt war es genug mit der Zirkusvorstellung.
»Ich glaube nicht an Zufälle«, erklärte Roxane leise. »Coenrad, ich gehe nach unten«, verkündete sie danach laut. »Huwert! Sie haben das Deck.«
Dann schritt sie zum Niedergang und versuchte dabei völlig zu ignorieren, dass ein Miniaturdrache auf ihrer Schulter saß und dass ihre Mannschaft sie deshalb ansah, als sei ihr just ein zweiter Kopf gewachsen.
Erst als sie in ihrer Kajüte angekommen war, atmete sie auf. Sinosh ließ ihre Schulter los und hüpfte auf ihren Schreibtisch,
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