Sturmwind der Liebe
erinnern konnte. Also ließ sie ihn allein.
Als sie zurückkam, war er vollständig angezogen, saß am Schreibtisch und las in einigen Papieren.
»Du siehst ja aus, als wolltest du einen Ballsaal besuchen.«
»Einen Ballsaal? Habt ihr denn so etwas in den Kolonien?«
»Sei kein Snob! Moment mal, du weißt also, daß es in England Ballsäle gibt?«
»Ja, das weiß ich. ich weiß nur nicht, woher ich das weiß. Aber ich weiß es. Bist du der Kapitän dieses Schiffs?«
»Ja«, sagte sie und trug unbewußt das Kinn noch etwas höher als sonst. Sie erwartete, daß er sagen würde, sie wäre nicht dazu fähig und daß er das Kommando übernehmen wollte.
Aber es kam anders. Nach einer Weile sagte er: »Das erscheint mir recht ungewöhnlich. Du, eine Frau, bist Kapitän eines Schiffs!«
»Es mag ungewöhnlich sein. Aber keine Sorge, ich bin ein guter Kapitän.«
»Da ich dich geheiratet habe, nehme ich an, daß du mehr als gut bist. Etwas Besonderes, möchte ich sagen.«
Zögernd fragte sie: »Es macht dir nichts aus, daß ich dein Kapitän bin?«
»Warum sollte es? Wie du sagst, hast du uns durch einen Hurrikan geführt. Du wirkst intelligent und redegewandt.«
Beide verfielen in Schweigen. Genny dachte daran, daß dies noch viel eigenartiger war, als Alec es sich vorstellte. Es machte ihm auf einmal nichts mehr aus, daß sie Kapitän war!
Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte er: »Das ist doch höchst sonderbar. Hier sitze ich an Bord eines Schiffs, weiß nicht, wer ich bin und warum ich nicht der Kapitän bin. Dabei habe ich das Gefühl, daß ich eigentlich Kapitän sein müßte.«
Vorsichtig entgegnete sie: »Du bist Kapitän der Schonerbark, die hinter uns her fährt. Das ist dein Schiff. Du seist der Eigner von etwa sechs Schiffen, hast du mir mal erzählt.«
»Ja, ich weiß. Aber darum geht es nicht.« Er seufzte. »Kümmere dich nicht um mich! Es ist nur …«
»Rede keinen Unsinn, Alec! Du bist an Bord meines Klippers. Daher bin ich für dich verantwortlich, und außerdem habe ich zufälligerweise auch etwas für dich übrig. Ich weiß, du kommst dir vom Schicksal geschlagen vor …«
Er beugte sich zurück und schien erschöpft zu sein.
Sie legte ihm die Hand leicht auf den Unterarm und sagte: »Komm ins Bett!«
»Kommst du mit?«
»Ja.«
Genny hatte sich kaum an ihn gekuschelt, da kündigte sein gleichmäßiges Atmen an, daß er bereits tief eingeschlafen war.
»Was hätte ich wohl gemacht, wenn er liebesbedürftig gewesen wäre?« fragte sich Genny laut. Und gab sich auch gleich die Antwort: »Wahrscheinlich wäre ich über alles entzückt gewesen, was er mit mir angestellt hätte.« Würde er noch wissen, wie man eine Frau liebte? Würde er sich all der wunderbaren Dinge erinnern, die er mit ihr getrieben hatte? Nun, sie würde es bald erfahren.
Alec verschlief den ganzen Nachmittag.
»Endlich North Point«, sagte Snugger mit großer Zufriedenheit.
Schweigend schaute Alec der Stadt Baltimore entgegen. Dann fiel sein Blick auf Fells Point. »Das ist die Paxton-Werft, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Snugger.
Alec fiel gerade Nesta ein – was für ein ausgefallener Name! Nur ganz kurz war ihm ihr hübsches, lachendes Gesicht erschienen. Gleich danach hatte er sie schon als Tote gesehen. Bald würde er seiner Tochter gegenüberstehen. Das war ein beängstigender Gedanke. Er mußte Genny noch über Hallie ausfragen, um zu vermeiden, daß das Kind sich vor ihm fürchtete.
»Hallo!«
»Selber hallo«, sagte er und drehte sich zu seiner Frau um. Mißbilligend schaute er auf die Wollmütze und die weite Bluse mit der Lederweste darunter. »Ich würde dich lieber im Kleid sehen.«
»Kommt noch.«
»Diese Wette! Erzähle mir noch mal davon!«
Sie hatte sie ihm bisher nur kurz angedeutet. Es kam ihr nicht in den Sinn, ihn anzulügen oder die Dinge zu ihrem Vorteil darzustellen. »Bleibt das Problem«, schloß sie wenige Minuten später ihren Bericht, »daß es zu keiner Entscheidung gekommen ist. Wer hat denn nun gewonnen? Ich glaube, wir haben beide gewonnen. Allein dadurch, daß wir überlebt haben. Was sollen wir nun tun, Alec? Ich weiß es nicht. Am liebsten würde ich …« Sie brach ab und besah sich die Fingernägel.
»Du hättest es am liebsten, wenn ich dir die Werft überschriebe und dich verließe, ja?«
»Ja. Nein. Also zur Hälfte.«
»Welche Hälfte beanspruchst du?«
»Die Werft. Sie gehört mir. Und sie sollte mir weiterhin gehören.«
»Warum hat dann dein Vater dieses
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