Sturmwind der Liebe
Glaubst du, daß du kräftig genug bist, um in die Bruderschaft der Kalfaterer aufgenommen zu werden?«
»Das müßte dann schon eine Schwesternschaft sein«, sagte Alec.
»Ja, richtig. Zeig mir mal deine Muskeln!«
Hallie zeigte James ihre Muskeln, und er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Donnerwetter, die sind ja wie die von Baltimore-Billie. Das ist ein Bursche, vor dem ich Angst hätte, wenn er böse auf mich wäre.«
»Und mir macht’s überhaupt nichts aus, wenn ich mich mit Teer bekleckere«, sagte Hallie in ehrfürchtigem Entzücken.
»Hör auf, mein Kürbis! Das hört sich ja an, als gäbe es kein schöneres Weihnachtsgeschenk für dich!«
Genny merkte, daß sie das kleine Mädchen schon wieder anstarrte. »Wo ist denn deine Mama?« Kaum hatte sie es gesagt, als sie erschrocken innehielt. »Oh, laß nur, tut mir leid, hab es ganz vergessen. Möchtest du noch ein Stück Kuchen?«
Ohne jede Gemütsbewegung sagte Hallie: »Meine Mama ist gestorben. Das ist schon lange her. Ungefähr zu der Zeit, als ich geboren wurde. Ich kann mich nicht mehr an sie erinnern. Aber Papa hat ein Bild von ihr. Sie war sehr hübsch. Papa sagt, sie war sehr lieb, und sie ist nicht gern gereist. Trotzdem hat sie alle Reisen mitgemacht und sich nie beklagt.«
»Reist du denn mit deinem Papa?« fragte Genny.
»O ja. Papa und ich fahren überallhin zusammen. Wir waren sogar bei dem Gouverneur von Gibraltar zum Abendessen. Mrs. Swindel haßte Gibraltar. Sie hat gesagt, die Spanier würden kommen und alle Engländer umbringen. Sie hat gesagt, da gibt es lauter ekelhafte Affen, die einen anspringen.«
James Paxton lachte und tätschelte Hallies Schulter. »Hast du die ekelhaften Affen gesehen?«
»O ja, die waren aber nett. Ich habe Papa gebeten, mir einen zu schenken. Aber er hat gesagt, der Affe würde sich an Bord eines Schiffs nicht wohl fühlen.«
»Da hatte er sicherlich recht«, sagte Genny. Es fiel ihr schwer, den Mann, den Hallie schilderte, mit ihrem Bild von Alec in Einklang zu bringen. Aber was sich gestern nacht ereignet hatte, war nicht wegzuleugnen. Er hatte sie in seiner Koje gefesselt, sie nackt ausgezogen und sie angerührt … Genny sprang auf die Beine, stöhnte über die Schmerzen im Knöchel und setzte sich gleich wieder.
Alec hatte wieder seine verruchte Miene aufgesetzt. »Was ist, Genny? Woran denken Sie? Wohl an gestern nacht? An Ihren verstauchten Knöchel? Sie sollten sich besser vorsehen. Sagten Sie, daß Sie an einer Hausfassade heruntergefallen sind?«
»Nein, ich bin die Treppe hinaufgefallen.«
»Vielleicht könnten Sie uns mal vormachen, wie das passiert ist. Als Vorbeugungsmaßnahme für künftige Unfälle.«
»Ich muß mich jetzt umziehen. Bis gleich, Hallie.«
»Du wolltest doch zur Werft gehen«, sagte James.
»Später, Papa. Zuerst gehen wir Kleider kaufen – für Hallie. Zur Werft gehe ich nach dem Mittagessen. Dann nahme ich Hallie mit und bringe sie zu John Furring.« Und zu Hallie gewandt: »Er stellt das Werg zum Kalfatern her. Ein alter Mann, der wunderbare Geschichten zu erzählen weiß.«
»Ach, darauf freue ich mich. Vielen Dank, Genny.«
»Nun, das finde ich höchst interessant«, sagte James und sah seiner Tochter nach, die gerade aus dem Salon humpelte.
»Hallie, nimm dein drittes Stück Kuchen und verfüge dich zu dem vergoldeten Käfig!«
»Ja, Papa. Ich weiß schon, du willst mit Mr. Paxton Geschäftliches besprechen.«
»Genau.«
»Sie ist ein wunderbares kleines Mädchen, Alec.«
»Ja, das stimmt. Ich staune immer wieder über sie. Ich hatte ja keine Ahnung, daß sie auch über Schiffsbau so gut Bescheid weiß. Mein Kajütenjunge war also Kalfaterlehrling Doch jetzt zum Geschäft, Sir. Sie haben doch vor Ihrer Krank heit die Werft geleitet? Sie waren der Mann, der die Schiffe baute?«
»Ja. Genny war meine Mitarbeitern. Sie erledigte hauptsächlich die Buchführung. Aber sie beherrscht auch alle Einzelheiten des Baus. Und das schon seit ihrem dreizehnten Le bensjahr. Im vergangenen Winter hat sie die
Pegasus
nach meinen Plänen weitergebaut. Als ich diese Herzattacke hatte, hat sie alles übernommen und fertiggestellt. Hat Ihnen Genny schon unser Lagerhaus gezeigt? Nein? Sie sollten es sich mal ansehen, dann haben wir auch noch unsere Segelwerkstatt in der Pratt Street. Zur Zeit beschäftigen wir dort wohl acht Mann. Genny war es, die angeordnet hat, die Segel Stück für Stück anzufertigen. Sie sagt, daß wir gut im Zeitplan liegen. Ende Oktober werden
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