Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
auf der Stelle tretenden Menschen. Sie alle standen vor einem Tisch an, auf dem mehrere Töpfe mit gewaltigem Umfang thronten, aus denen sich heißer Dampf der grauen Wolkendecke über der Stadt entgegendrehte.
Wie tanzende Engel , dachte Willi. Dabei fiel ihm Helene ein, wie sie mit ausgebreiteten Armen im Hinterhof getanzt hatte, nur um zu beobachten, wie sich ihr Rock um ihre Beine bauschte. Demy van Campen hatte einmal zu ihm gesagt, dass Helene nun im Himmel tanzen würde. Die Vorstellung gefiel Willi, zumal er froh darüber war, dass seine kleine Schwester nicht mit ihnen in dem dreckigen Kellerloch schlafen und bohrenden Hunger erleiden musste. Ob er wegen diesem Gedanken ein böser Mensch war?
Energisch packte Willi Peter am linken Hosenträger und zog ihn hinter eine ältere, verhärmt aussehende Frau in ansehnlicher Kleidung. Immer mehr Menschen nutzten diese kostenlosen Essensausgaben, darunter auch Familien, deren Lebensstandard vor dem Krieg ganz passabel gewesen war. Willi beobachtete diese Verschiebung mit großer Sorge. Wenn sogar diese Klasse schon hungerte, würde das Essen der Suppenküchen bald nicht mehr für die schon immer Benachteiligten dieser Stadt ausreichen, denn wer würde es fortan finanzieren?
Für Willis knurrenden Magen rückten die Anstehenden viel zu langsam vorwärts. Er hatte zuletzt am Vortag einen verschrumpelten Apfel mit Peter geteilt, seither aber nichts Essbares mehr auftreiben können.
Wieder gingen zwei Frauen in langen Mänteln, warmen Schnürstiefeln und kecken Hüten auf den erstaunlich kurz geschnittenen Haaren mit einem Teller dampfender Suppe an ihm vorbei. Die Menschen vor ihm rückten begierig auf. Willi trat ebenfalls nach vorn, fuhr aber herum, als hinter ihm eine raue Männerstimme brummte: »Willst du nicht, Junge? Dann lass mich vorbei!«
Ein Mann schob sich vor Peter, der stocksteif auf der Stelle verharrte. Willi verdrehte die Augen. Auf keinen Fall wollte er seine Position in der Menschenschlange aufgeben, zumal er sehen konnte, dass die Schöpfkellen bereits tief in den Töpfen verschwanden.
»Komm doch, Peter, komm!«, lockte er und ignorierte den Mann zwischen ihnen, der seine kräftigen Hände in die Seiten stemmte, offenbar entschlossen, seinen besseren Platz gegen den Jungen zu verteidigen.
»Wir müssen verschwinden!«, zischte Peter. Unverhüllte Angst stand in seinen Augen.
Widerwillig gab der ältere Zwilling seinen Platz frei und huschte zu seinem Bruder. »Was ist los?«, zischte er und sah sich prüfend um. Den Apfel, den sie am Vortag verzehrt hatten, hatten sie aus dem Korb einer Dame gestohlen, und am Tag davor waren sie von einem Wachmann aus dem Kaufhaus Wertheim vertrieben worden, weil sie die Kunden angebettelt hatten.
»Erkennst du sie denn nicht wieder? Demys Freundinnen! Lina heißt die eine, die andere Margarete oder so ähnlich.«
Willi folgte mit dem Blick Peters ausgestrecktem Zeigefinger und zuckte unwillkürlich zurück. Die beiden Frauen an der Essenausgabe kamen auch ihm erschreckend vertraut vor. Bei genauerem Hinsehen erkannte er inmitten der Dampfschwaden und unter den breitrandigen Hüten tatsächlich die Professorentochter Lina und ihre Freundin Margarete.
Wieder rückte die Menge vor und Willi zog Peter mit sich. Nur noch sieben Personen befanden sich zwischen ihnen und der begehrten Mahlzeit.
»Willi, lass uns verschwinden«, bettelte Peter.
»Ich habe aber Hunger!«
»Ich auch. Aber sie werden uns erkennen. Und dann?«
»Was sollen sie denn tun?«
»Uns ausfragen, uns in eine dieser Anstalten stecken.«
»Blödsinn.«
»Ich kann nicht lügen, das weißt du doch. Wenn sie hören, dass wir keine Eltern und kein Zuhause mehr haben, werden sie das tun.«
»Na und, dann laufen wir eben weg.«
»Bernd hat gesagt, in den Anstalten sei es schrecklich und man müsse für nichts den ganzen Tag schwer schuften.«
»Bernd ist ein Idiot. Sie haben ihn beim Klauen erwischt. Natürlich war es da, wo er war, grauenhaft«, versuchte Willi Peter zu beruhigen.
»Ich will aber nicht erwischt werden.«
»Wobei denn? Wir dürfen hier Essen holen.«
»Ich will nicht von dir getrennt werden. Am Ende stecken sie uns in zwei unterschiedliche Heime!« Peters Stimme wurde schriller. Willi sah, wie ein Zittern Peters ausgemergelten Körper durchlief.
»Beruhige dich. Niemand sieht uns an, dass wir kein Zuhause und keine Eltern mehr haben. Lina und Margarete wissen doch, dass wir aus dem Scheunenviertel stammen. Für sie
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