Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Leutnant«, stammelte er und stemmte sich ein Stück nach oben. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Mehrere kleine Brandherde rauchten heftig. Der Verbandsplatz bestand nur noch aus tiefen Löchern, morastiger Erde, zerstörtem Equipment und verstümmelten Leichen. Einzig ein Fahnenmast stand noch aufrecht und an ihm flatterte beinahe höhnisch munter die weiße Flagge mit dem roten Kreuz im Wind.
Einige Augenblicke lang wusste Robert nicht, was er tun sollte. Schließlich besann er sich auf das Nächstliegende. Er rutschte in den Trichter zurück und kniete sich neben den Leutnant, außer ihm der einzige Überlebende. Die Augenlider des Mannes flatterten. Er hatte viel Blut verloren. Robert schob das zerfetzte Hosenbein nach oben und betrachtete die noch nicht versorgte Verletzung. Ob dies der Mann war, der Sekunden vor der zweiten Angriffswelle herbeigetragen worden war?
Ein metallisches Klicken in seinem Rücken und die aufgerissenen Augen seines Patienten ließen Robert den Kopf drehen. Oberhalb des Kraters stand breitbeinig ein russischer Soldat, das Gewehr unmissverständlich auf den Kopf des Arztes gerichtet.
»Hände hinter den Kopf«, lautete der russische Befehl.
Robert gehorchte sofort. Er brachte es sogar fertig, dem Mann in dessen Muttersprache zu antworten: »Ich bin Arzt. Dieser Leutnant hier ist schwer verletzt.«
Die Augenbrauen des Russen zuckten hoch, wohl verwundert darüber, dass ein Deutscher seine Sprache nahezu akzentfrei beherrschte. Dann schwenkte er seine Waffe ein Stück zur Seite und unter seinen Schüssen bäumte sich der Verletzte auf, ehe er tot zurücksackte.
Robert schloss resigniert die Augen. Anscheinend machten die Russen keine Gefangenen mehr. Demnach würde er als Nächster sterben. Seine Gedanken wanderten zu Anki, bevor ein tief in seinem Gehirn und seinem Herzen verwurzeltes Gebet, das ihn selbst in diesen Sekunden nicht verließ, leise über seine Lippen kam: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln 33 …«
32 Gegner der Entente. Militärbündnis aus Deutschem Reich, Österreich-Ungarn, Osmanischem Reich und Bulgarien. Auch als Zentralmächte oder Vierbund bekannt.
33 Psalm 23
Kapitel 40
Berlin, Deutsches Reich,
August 1915
»Herr Müller, was denken Sie?« Demy blickte über die kleinen Felder, die zwischen Rosenhecken, Zierbüschen und der rückwärtigen Mauer des Grundstücks lagen, wo sich früher Blumenrabatten und eine Wiese befunden hatten.
»Ich empfehle, nachts einen Wächter aufstellen. Die Ernte steht gut, könnte aber hungrige Gesellen dazu verleiten, sich zu bedienen.«
»Aus diesem Grund haben wir das Gemüse eigens hinter dem Haus angepflanzt.«
»Es sind so viele Menschen auf Streifzügen nach etwas Essbarem unterwegs, die kommen auch hinters Haus.«
»Ich kann hier draußen schlafen und Wache halten«, schlug Feddo vor. Nachdenklich schaute Demy ihren Bruder an. Er war jetzt vierzehn, alt genug, um eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen. Der Schulunterricht fand ohnehin nur noch sporadisch statt, sodass es niemanden stören würde, wenn Feddo die noch warmen Nächte vor dem Herbst im Freien verbrachte.
»Meinetwegen. Sprich mit Bruno. Er soll dir helfen, einen Unterstand zu bauen oder eine Kutsche in den Garten stellen, in der du dir ein Lager einrichten kannst.«
Feddo strahlte vor Begeisterung und wollte davonstürmen, doch Demy hielt ihn am Arm zurück. »Keine Eskapaden und Abenteuer! Falls sich jemand nähert, wirst du versuchen, ihn zu vertreiben, dich aber nicht auf eine Auseinandersetzung einlassen. Wenn es mehrere Personen sind, versteckst du dich.«
»Wo soll ich mich denn verstecken?«, fragte Feddo, nicht begeistert über die Einschränkungen, die Demy ihm auferlegte.
»Ich zeige dir nachher eine Stelle, an der man unbemerkt die Außenmauer übersteigen kann.«
Ihr Bruder musterte sie mit einem zugekniffenen Auge und grinste dann verstehend. Zu Recht nahm er an, dass sie diesen Weg in ihren ersten Jahren in Berlin öfter genutzt hatte, um dem streng geführten Meindorff-Regime zu entkommen.
Pauline, Irma und Monika, die sich bei allen anstehenden Aufgaben meist reichlich ungeschickt anstellte, kehrten aus der Mittagspause zurück und rückten bereitwillig dem wuchernden Unkraut zu Leibe. Luisa und Leni, die Töchter von Hannes und Edith, die sich nach einem kurzen Besuch in Berlin wieder in einem Lazarett an der französischen Front befand, kamen ebenfalls in den Garten gelaufen, gefolgt von Nathanael.
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