Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
registrierte die Leere entlang der Häuserfronten in der Gorokovskaja, wo sich üblicherweise ein Gefährt an das andere reihte. Rasputin empfing an diesem Abend offenbar keinen Besuch in seiner Wohnung. Sogar die Fenster im Treppenhaus und den Zimmern, die zur Straße hin gelegen waren, lagen im Dunkeln.
Anki wollte zum Kutschbock gehen, um den Fahrer zu bitten, auf sie zu warten, doch dieser trieb, ohne auf seinen Passagier zu achten, die Zugpferde an und fuhr davon. Das harte Klappern der Hufe und das metallische Knirschen der beschlagenen Räder hallten noch lange in der Straße nach.
Fassungslos starrte Anki dem Gefährt hinterher. Das Verhalten des Mannes heizte ihre Furcht noch mehr an. Wusste er, wer hier wohnte? War es ihm in dieser Nacht nicht geheuer, sich in der Nähe Rasputins aufzuhalten? Vielleicht hätte sie zuerst bei den Osminkens vorbeifahren sollen, ging es Anki durch den Kopf, aber wie schon zuvor wischte sie diese Überlegung beiseite. Dort konnte sie später noch nach den Mädchen suchen – sobald sie sich davon überzeugt hatte, dass sie sich nicht bei Rasputin aufhielten!
Mit tastenden Schritten überquerte sie die glatte Straße und wandte den Blick nicht von den dunklen Fenstern, hinter denen sie die Wohnung des von ihr so gefürchteten Mannes wusste. Schweißperlen liefen ihr trotz der Eiseskälte über den Rücken, ihr Magen begehrte unter Schmerzen gegen ihr Vorhaben auf. Nur ein paar Meter von der Haustür entfernt verharrte Anki, die vor Angst wie gelähmt war. Ein blasser Mond am sternenübersäten Himmel beschien ihre einsame Gestalt auf der Straße.
In einiger Entfernung setzte sich ein Automobil in Bewegung. Das knatternde Motorgeräusch hallte zwischen den Häusern wider und kam näher. Diese modernen Fortbewegungsmittel konnten sich nur die Reichen leisten. Saß darin einer derjenigen Menschen, die von einem Komplott gegen den Freund und Berater der Zarenfamilie wusste? Ein Duma-Abgeordneter 35 , ein Adeliger oder gar ein Mitglied der Romanow-Dynastie?
Anki blinzelte nervös und schalt sich eine von ihrer Fantasie übermannte Gans. Weshalb sollte Rasputin ausgerechnet in dieser Nacht ermordet werden? Womöglich war das alles bloß dummes Geschwätz. Sie musste einfach nur dafür Sorge tragen, dass Nina niemals mit dem Starez zusammentraf. Alles andere ging sie nichts an!
Als das Automobil scharf hinter ihr abbremste, war Anki trotzdem kurz davor, die Flucht zu ergreifen. Jemand schob das Fenster auf der Beifahrerseite auf. Sie erkannte in der vom fahlen Mondschein angeleuchteten Person ihre Freundin Ljudmila.
»Was?«, entfuhr es Anki, und eine weiße Kondenswolke hüllte ihr Gesicht ein. Erleichterung breitete sich wie ein warmer Sonnenstrahl in ihr aus. Ljudmila war bei ihr! Sie war nicht mehr allein!
»Was tust du denn hier?«, fauchte ihre Freundin jedoch und ihre unnatürlich weit aufgerissenen Augen reflektierten das Mondlicht. In ihnen las Anki pure Angst. Diese Erkenntnis peitschte ihren Puls sofort wieder in die Höhe.
»Ich suche Raisa und Nina.«
»Bei dem Monster?«
»Raisa deutete so etwas an.«
»Geh nach Hause.«
»Aber Ludatschka …«
»Sie sind nicht hier. Nicht mal Rasputin ist hier. Er ist einer Einladung von Fürst Jussupow gefolgt.«
»Was tust du eigentlich in dieser Straße?«, fragte Anki zutiefst verwirrt.
»Ich warte und genieße.«
»Wie bitte?«
»Geh nach Hause.«
»Was genießt du?«
Anki hörte, wie Ljudmila ihrem Chauffeur einen Befehl erteilte, der sofort Gas gab. Der Wagen knatterte noch vehementer und schoss der glatten Straße zum Trotz schlingernd davon.
»Warte!«, rief Anki. Sie wollte dem dunklen Gefährt nacheilen, rutschte jedoch auf dem gefrorenen Untergrund aus und fiel auf einen hart gefrorenen Schneehaufen. »Warum lässt du mich allein zurück?«, schluchzte sie und blieb reglos liegen. Anspannung, Verzweiflung und die wildesten Überlegungen drohten sie wie eine graue Wolke zu umhüllen, aus der sie keinen Ausweg sah. Kälte zog unter ihren Mantel und den um Kopf und Hals geschlungenen Schal. Ihre Füße fühlten sich an wie Eisklumpen, doch ihr Verstand begann scharf zu arbeiten.
Hieß es nicht, Rasputin treffe sich nur noch mit Menschen, denen er vertraute? Sie erinnerte sich gut an den Blickwechsel und die Bemerkungen von Fürst Jussupow bei den Chabenskis, als das Gesprächsthema auf Rasputin kam. Jussupow, einer der wohlhabendsten Männer dieses Landes und durch seine Frau dem Zarenehepaar
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