Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Weise in einem Kanal ertrunken war. Sie hoffte und betete, dass sie niemandem begegnete, der sie fragen würde, weshalb sie in dieser Nacht durch die vereisten Straßen lief. Schließlich erreichte sie den zugefrorenen Fontanka-Kanal und entschied sich, bei den Zoraws anzufragen, ob sie für sie einen Chauffeur oder Kutscher abstellen würden.
Während sie die Auffahrt hinaufeilte, betrachtete sie verwundert die vielen erleuchteten Fenster. Sie hatte zwar gehofft, dass noch jemand wach war, doch diese übermäßige Beleuchtung war ihr nicht geheuer.
Ljudmila hatte keine Festlichkeit erwähnt. War die Nachricht von Rasputins Tod bereits durchgesickert oder gab es einen anderen Grund für das hell erleuchtete Haus? Große Sorge um Ljudmila machte sich in Anki breit, während sie versuchte, auf der zwar mit Sand und Asche bestreuten, aber noch immer glatten Auffahrt schneller voranzukommen.
Hatte ihre Freundin in all der Aufregung einen Rückfall erlitten? War der Tod von Jevgenia Ivanowna, der Missbrauch durch Rasputin, der Freitod von Jevgenias Mutter und nun Rasputins Ermordung zu viel für ihre angeschlagene Seele gewesen?
Anki warf sich förmlich die Stufen hinauf und riss am Klingelzug. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis ein Dienstmädchen ihr öffnete und Anki in das überheizte Innere des Palastes taumelte, um dort keuchend vor Anstrengung und überwältigt von dem Temperaturunterschied auf die Knie zu sinken.
»Fräulein?«, sprach die Bedienstete sie an.
»Ist Komtess Ljudmila Sergejewna noch zu sprechen? Es ist wichtig«, japste Anki.
Die Frau nickte und eilte davon. Mittlerweile hatte Anki sich so weit erholt, dass sie sich aus ihrer warmen Vermummung pellen konnte. Sie behielt sowohl den Mantel als auch das Kopftuch und den Schal in den Händen, da sie das Haus schnell wieder verlassen wollte.
»Anki?« Ljudmilas Tonfall klang ebenso farblos und frostig wie die Nacht draußen. Angespannt schaute Anki ihr entgegen, registrierte die hängenden Schultern, den unruhigen Blick und die Frage in ihren Augen.
»Komme ich ungelegen?«, stieß Anki ungehalten hervor. Ihre Angst um Nina und die Bilder des von der Brücke fallenden Bündels schienen in ihrem Kopf winzige Explosionen auszulösen. Die ihr sonst eigene Zurückhaltung war wie ausgelöscht.
»Komm mit«, sagte Ljudmila und führte Anki in ihr Zimmer. Die vertrauten Möbel und beruhigenden Farben taten ihre Wirkung auf Ankis aufgewühltes Gemüt. Ljudmila setzte sich auf die mit weinrotem Brokat bezogene Chaiselongue, während Anki sich mit dem Rücken gegen einen der Fenstersimse lehnte. »Was führt dich hierher?«
»Ich suche noch immer nach Nina. Und da du mich auf der Petrograder Insel einfach stehen lassen hast, kam ich nicht sehr weit. Ich brauche deine Hilfe.«
»Was ist mit den Kutschern der Chabenskis?«
»Sie waren unterwegs, als ich fortmusste.« Anki krampfte ihre Finger in den Stoff ihres Mantels. Die Komtess wirkte auf sie wie ein nervöses Wrack und eindeutig nicht bereit, ihr zu helfen.
»Jetzt wird er tot sein«, sagte Ljudmila plötzlich.
Anki schwieg. Sie sah keine Veranlassung zu offenbaren, dass sie wusste, von wem ihre Freundin sprach, noch, dass sie den Tod des Starez bezeugen könnte. Wieder brach das Grauen der vergangenen Stunden über sie herein, und sie rutschte mit dem Rücken an der Wand entlang, bis sie auf dem Boden saß, wobei sie Mantel und Schal zitternd an sich presste.
»Herzog Bobow ist hier«, erzählte Ljudmila emotionslos weiter. »Er wusste um den Plan von Jussupow und den Duma-Abgeordneten und Mitgliedern der kaiserlichen Familie. Vermutlich gehört er mit zu den Verschwörern.«
»Weil er Rasputin die Schuld für den Tod seiner Tochter gibt?«, vermutete Anki.
Ljudmilas Lachen klang hysterisch. »Anki, ich erinnere mich wieder.«
»Wie bitte?«
»Seit unserem Zusammentreffen mit Rasputin in Zarskoje Selo letzten August ist die Erinnerung an jene Nacht zurückgekehrt. Und glaube mir, ich wünschte, sie würde wieder hinter diesem Nebel verschwinden, der sich so lange über sie gelegt hatte.«
Anki starrte Ljudmila fassungslos an. Ihre Freundin erinnerte sich seit Monaten an die Vorkommnisse jener schicksalhaften Nacht und hatte es ihr gegenüber nicht erwähnt? Kam daher ihre Wesensveränderung, die plötzliche Kälte zwischen ihnen?
»Warum?«, hauchte sie kraftlos.
»Warum ich es dir nicht gesagt habe? Ich konnte es nicht. Damals, in der Nacht, bevor du und dein Verlobter mich aus
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