Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
verwandtschaftlich verbunden, verachtete Rasputin und hielt ihn seit jeher für eine Gefahr. Hatte sich daran etwas geändert?
Anki stützte sich mit den Händen gegen den karstigen Schnee und erhob sich. Rasputin vertraute Fürst Jussupow? Die Erkenntnis schlich sich, nahezu heimlich in ihre verängstigten Gedanken ein: Nichts passte zusammen – und doch ergab alles einen Sinn. Jussupow, ein Adeliger mit verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Romanows, hatte Rasputin trotz seiner Vorbehalte zu sich eingeladen. Ljudmila hielt sich vor dem Haus auf, in dem sie nicht nur ihre Unschuld und ihren Glauben an Rasputin verloren hatte – sondern auch ihre beste Freundin sowie einen Teil ihrer Erinnerungen. Ich genieße , hatte sie gesagt. Woher Ljudmila wusste, dass sich Rasputins Schicksal heute besiegelte, konnte Anki nicht ergründen. Aber dass Ljudmila den Gedanken genoss, ihren Peiniger endlich für immer los zu sein, verstand sie sehr genau.
Beinahe wie in Trance begab Anki sich auf den Heimweg. Nina und Raisa befanden sich in Sicherheit. Fürst Jussupow würde an diesem Abend keine jungen Damen zu einer Veranstaltung in sein rund 200 Plätze bietendes Haustheater oder zu einer Soiree in einen der exklusiv eingerichteten Säle seines weitläufigen Palais bitten. Rutschend und stolpernd lief Anki durch die Straßen der Petrograder Insel und wusste bald nicht mehr, in welche Richtung sie sich wenden musste. Sie hatte sich verlaufen. Suchend sah sie sich um.
Noch war es ruhig in diesem Rajon. Es gab keine Warteschlangen vor den Geschäften, niemanden, den sie nach dem Weg fragen könnte. Bei Temperaturen von unter 10 Grad minus wagten sich weder Prostituierte noch Säufer noch düstere Gestalten auf die Straßen, zumindest nicht in dieser Gegend.
Intuitiv bog sie in eine Gasse ein, in der ein feuchter Luftzug die unmittelbare Nähe eines der unzähligen Gewässer der Stadt erahnen ließ. Befreit atmete sie auf und ging schneller. Sie hoffte am Kanal auf einen Anhaltspunkt, der ihr verriet, wo sie sich befand.
Der Schnee knarzte unter ihren Schritten, als sie endlich das Ufer der Kleinen Neva erreichte. Mit einer dünnen, im Mondlicht bläulich glitzernden Eisschicht überzogene Bäume erhoben sich vor ihr und verwehrten ihr den Blick auf die nächstgelegene Brücke, anhand derer sie sich zu orientieren hoffte. Die in Flussnähe herrschende feuchte Kälte ließ sie erschauern und veranlasste sie, ihren Schal bis über ihre Nasenspitze zu schieben. Hinter sich hörte sie Gelächter, von weit her war das Klappern von Pferdehufen zu hören. Ob die Polizei Patrouillen ausgeschickt hatte? Immer mehr fürchtete die Elite des Landes die zunehmende Macht der gewerkschaftlichen Organisationen und die sich im Untergrund organisierenden Widerständler. Streiks und Aufstände waren an der Tagesordnung und der Blutige Sonntag war allen nur zu präsent.
Ein Motorengeräusch und die Lichtkegel von Scheinwerfern ließen Anki Zuflucht hinter einem der vor Eis erstarrten Bäume suchen. Ein Automobil näherte sich ihr. Und dann ging alles plötzlich sehr schnell: Das Fahrzeug stoppte mit quietschenden Reifen auf der nahe gelegenen Brücke. Mehrere dunkle Silhouetten sprangen heraus und machten sich im Wageninneren an irgendetwas zu schaffen. Leise, für Anki nicht verständliche Wortfetzen drangen zu ihr. Die Männer schleppten etwas Schweres aus dem Automobil und hievten es auf das Brückengeländer.
Anki riss die Augen auf. Im Mondschein erkannte sie Fürst Jussupow und Dmitri Pawlowitsch, einen Neffen des Zaren, der in der Erbfolge auf den Zarenthron weit oben stand. Gemeinsam rollten sie eine menschliche Gestalt über das Geländer. Sekunden später schlug diese auf der Eisschicht der Kleinen Neva auf, die unter dem Gewicht in unendlich viele im Mondlicht aufblitzende Splitter zersprang. Gurgelnd trug der schwarze, jetzt im Winter träge fließende Fluss den Körper mit sich.
Anki konnte den Blick nicht von dem grausigen Geschehen abwenden. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte sie, zwei Hilfe suchend nach oben gereckte Hände zu sehen, dann verschwanden sie zwischen den knarrend aneinanderreibenden Eisschollen 36 .
Rasputin war tot. Und sie? Eine Mitwisserin? Eine Zeugin der Tat?!
***
Weder Nina noch Raisa befanden sich im Haus der Osminkens, sodass Anki weiter durch die nächtliche, stille Stadt wanderte, verfolgt von den Erinnerungen an das Gesehene und dem Wissen, dass auch ihr Vater vor zwei Jahren auf ähnliche
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