Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
musterte sie den feingliedrigen, gut aussehenden jungen Mann, und wie bei jeder ihrer Begegnungen klopfte ihr Herz wild. Ob sie jemals darüber hinwegkommen würde, dass er dem Klassenkampf den Rücken gekehrt hatte und jetzt einer von den bourgeoisen Akademikern war? Zwar hatte er sich ihr gegenüber damit zu rechtfertigen versucht, dass er lediglich eine sich ihm bietende Chance nutzte und gerade die Männer, die Herausragendes für die Rechte der Bevölkerung leisteten, oft überaus gebildet seien, doch sie hielt diese Argumentation nicht für die ganze Wahrheit. Viel zu sehr schien er in seinem Studium und seinen Arbeiten aufzugehen und sich im Hause Barna wohlzufühlen.
Lieselotte kämpfte darum, ihren Pulsschlag zur Ruhe zu zwingen. Weshalb nur liebte sie diesen Mann noch immer? Und warum fand sie ihn in dieser schrecklichen Uniform so atemberaubend anziehend? Sie war doch gegen alles, was mit dieser kriegerischen Auseinandersetzung zu tun hatte!
»Professor Barna hielt es für einen ausgezeichneten Gedanken, mich zu einer bestimmten Einheit zu melden …«
»Dieser Mann schickt dich in den Krieg?«, fiel sie ihm entsetzt ins Wort. »Hat er dich über all die Jahre protegiert, nur damit du jetzt als Kanonenfutter verheizt wirst?« Ihr Magen zog sich bei dieser Vorstellung schmerzlich zusammen, aber Anton lachte und tätschelte ihr tröstend den Oberarm.
»Lass mich doch ausreden. Es gibt innerhalb der Lehr- und Versuchsanstalt Döberitz eine militärische Luftbildstelle unter Oberleutnant Carl Fink. Dort bauen sie Fotoapparate, die bei Beobachtungs- und Aufklärungsflügen über feindlichem Gebiet ihren Einsatz finden. Die Apparaturen sind sperrig und schwer und müssen ständig auf die immer höheren Geschwindigkeiten und Flughöhen der Flugzeuge angepasst werden. Die Entwicklungsverfahren der Fotografien könnte man noch verfeinern und es fehlt an einer sinnvollen Kommunikation zwischen den Fliegern und den Bodentruppen. Selbst beim Flugzeugbau oder aber bei der Schutzbekleidung für die Piloten könnte mein Einsatz in Döberitz gefragt sein.«
Lieselotte verzog verächtlich den Mund. »Jede Verbesserung der Technologien wird den Krieg nur noch mehr anheizen und größere Verluste an Menschenleben fordern.«
»Aber wir können so auch unsere deutschen Soldaten schützen! Und unser Land vor dem Einfall der Franzosen, Engländer oder Russen bewahren. So viel Patriotismus solltest sogar du aufbringen!«
Erschrocken über seine heftige Reaktion zog Lieselotte die Schultern hoch. Ihr ehemaliger Schlafbursche hatte sich verändert. Während seiner Zeit im Scheunenviertel hatte er ihrem aufbrausenden Vater nie die Stirn geboten. Nicht selten hatte ihr Vater Anton tagsüber aus dem Bett gescheucht, da er sich hinlegen wollte, obwohl Anton für die paar Stunden Schlaf in der Wohnung der Schefflers bezahlt hatte. Ganz offensichtlich war Anton erwachsen geworden, und Lieselotte fühlte sich nahezu magnetisch zu ihm hingezogen. Ob sie es wagen sollte, ihm ihre Zuneigung zu zeigen? Wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihn jetzt umarmte? Schließlich sah sie um sich herum, entgegen früherer Konventionen, Hunderte von Paaren, die sich zum Abschied in den Armen lagen. Lieselotte war eine emanzipierte Frau und sah es nicht ein, einzig dem Mann die Initiative zu überlassen. Entschlossen trat sie auf Anton zu, griff mit beiden Händen in den Stoff seines Uniformrocks und zog ihn ein Stück näher zu sich.
»Du bist gut ausgebildet und möchtest jetzt praktische Arbeit verrichten, das kann ich gut verstehen. Immerhin leiste auch ich meinen Anteil an der Bewegung zur Gleichstellung der Frau. Womöglich sind wir uns dahingehend ähnlich!«, sagte sie. »Jedenfalls bin ich froh, dich in der Nähe zu wissen. Vielleicht treffen wir uns jetzt wieder häufiger? Was denkst du?« Lieselotte wollte gern noch mehr auf Tuchfühlung gehen, doch der Pappkarton, in dem sich Antons Zivilkleidung befand, bildete ein unüberwindbares Hindernis zwischen ihnen.
»Wir werden sehen«, erwiderte er ausweichend. »Jetzt muss ich zu den Barnas.« Er räusperte sich, trat zurück, sodass sie ihn loslassen musste, und fügte fast nebenbei hinzu: »Lina und ich lassen uns heute noch trauen.«
Ein kalter Schmerz, als habe ein Eiszapfen sie durchbohrt, breitete sich in Lieselottes Brust aus. Sie schaute in dem Versuch zu Boden, nicht zu zeigen, wie tief sie diese Nachricht traf.
Bereits am 2. August hatten in Berlin über zweitausend
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