Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
murmelte sie und erinnerte sich missgelaunt daran, dass er sie früher schon so tituliert hatte.
Nachdem der Wald Philippe verschluckt hatte, begutachtete Demy das stabile Klappmesser. Mit diesem in der Hand spazierte sie zu dem sanft murmelnden Bach, an dessen Ufer die Weiden leise im Wind raschelten und Glühwürmchen einen nächtlichen Tanz aufführten. Die Landschaft, in der sie sich aufhielt, wirkte wunderschön und friedlich auf Demy. Es war kaum vorstellbar, dass nur einige Kilometer entfernt Soldaten marschierten, um sich einem Feind entgegenzuwerfen, der wohl ebenfalls lieber die Füße in das kühle Nass dieses Gewässers gehalten hätte, als mit einer Waffe auf andere Menschen loszugehen. Oder täuschte sie sich? Wie oft hatte sie die aufgepeitschten Reden der männlichen Besucher im Hause Meindorff gehört, die sich nach einem Kräftemessen sehnten, um die Überlegenheit der deutschen Armee, des deutschen Intellekts, des Deutschen im Allgemeinen zu beweisen! Aber sie hatte auch andere Stimmen vernommen; besonnene, warnende Stimmen. Diese hielten einen Krieg für eine Katastrophe, da die Effektivität der Waffen seit der letzten kriegerischen Auseinandersetzung weit vorangeschritten war und für eine weitaus schrecklichere Ernte sorgen würde, als es auf den Schlachtfeldern früherer Jahre der Fall gewesen sei. Worte wie diese hatten meist den Zeitpunkt markiert, bei dem die Männer zu lautstarken Diskussionen übergegangen waren. Kriegstreiber und Friedensapostel hatten sie sich beschimpft, waren aber niemals zu einer Einigung gelangt.
Demy empfand die Frage des politischen Weltgeschehens als zu komplex, die Strippen, an denen die Monarchen, die Regierungen und die Vertreter der Botschaften zogen, als zu verworren, um einen Überblick über die Geschehnisse zu erlangen. Für sie blieb nur eines wichtig: Ihr einziger Bruder war noch zu jung, um in den Krieg ziehen zu müssen. Zudem besaß er einen niederländischen Pass. Selbstverständlich hatten auch die Niederlande ihre Truppen mobilisiert, doch sie galten als neutral. Ob sie es bleiben durften, nachdem dieser Konflikt von Tag zu Tag mehr Staaten in seinen Schlund zog, wie ein nimmer satter und gefräßiger Riese? In Berlin sprach man davon, dass der Krieg höchstens ein paar Monate andauern würde, doch offenbar teilte Philippe diese Ansicht nicht.
Energisch zwang Demy sich aus ihren beängstigenden Überlegungen und ergriff eine Handvoll der biegsamen, bis auf den Boden hängenden Weidenzweige, um sie mit dem Messer abzuschneiden. Es dauerte lange, bis der Haufen Zweige auf der leicht ansteigenden Böschung so weit angewachsen war, dass sie das Messer zuklappte, einsteckte und mit dem Bündel im Arm den Weg zurück zur Scheune antrat.
Im Inneren des Gebäudes herrschte inzwischen vollkommene Dunkelheit, daher bog sie gleich hinter dem Tor nach links und warf die Äste auf den Boden. Prüfend setzte sie sich darauf und rümpfte unwillig die Nase. Vermutlich würde sie einen Großteil der Nacht damit zubringen, Zweige und später Gras zu schneiden, bevor sie ein halbwegs passables Nachtlager zustande gebracht hatte. Sie beschloss, nicht zimperlich zu sein. Ein zweites Mal ging sie zum Bachlauf, schnitt noch mal einen Armvoll Ruten und Blätter ab und breitete anschließend Claudes Decke über das provisorische Lager. Ihre Kostümjacke rollte sie als Kissen zusammen. Eigentlich hätte sie sich jetzt hinlegen können, doch Philippes Ausbleiben bereitete ihr Kummer. Lag die Ortschaft weiter entfernt, als es aus der Luft ausgesehen hatte? Oder war er auf Probleme gestoßen? Saß sie hier womöglich inmitten marschierender Armeen und einer misstrauischen Bevölkerung fest? Allein?
Geraume Zeit verharrte Demy unter dem glitzernden, friedlich anmutenden Sternenhimmel, beobachtete vereinzelte graue Wolkenschleier, die am Mond vorbeizogen, und lauschte auf das Zirpen der Grillen und das verhaltene Murmeln, das vom Bach zu ihr herüberdrang.
Ihre Unruhe steigerte sich, je mehr Zeit verstrich. War Philippe nicht schon mehrere Stunden fort? Hatte er keinen Treibstoff für das Flugzeug auftreiben können? Oder war er trotz seines perfekten, von Kind auf erlernten Französischs als Deutscher identifiziert und gefangen genommen worden? Zeigten sich die Menschen bereits wenige Tage nach der Kriegserklärung allem und jedem gegenüber feindselig, was Deutsch war? Demy rief sich die Lästereien und Hasstiraden in Erinnerung, die sie schon seit Jahren in ihrem
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