Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Nottrauungen stattgefunden – und das an einem Sonntag! Nun fügte sich Anton in die Reihe derer ein, die noch schnell vor den Traualtar traten. Aber nicht mit ihr als Braut! Sie hob zum Abschied die Hand; zu mehr sah sie sich im Augenblick nicht imstande. Dann drehte sie sich um und zwängte sich zwischen Soldaten, Passanten, Polizisten und den hier vor dem Bahnhof gestapelten Massen an Gepäckstücken hindurch. Der Platz war erdrückend voll, obwohl die ersten Truppen unterdessen, den Plänen des verstorbenen Generalfeldmarschalls Schlieffen und seines Nachfolgers Moltke folgend, in Belgien einmarschiert waren.
Blindlings hastete sie voran, die Stimmen der Übermütigen und der Traurigen im Ohr. Sie passierte geschlossene Restaurants, da niemand die Muße fand, sich bequem und gesellig niederzulassen, und die von Kindern gern frequentierten Spielplätze, die in diesen Tagen des Aufbruchs verwaist dalagen.
Lina Barna heiratete Anton! Lieselotte ballte ihre Hände zu Fäusten, um ihre Wut nicht laut hinauszuschreien, was bei dem um sie herrschenden Trubel aber kaum jemandem aufgefallen wäre. Doch schließlich hatte sie sich immer im Griff! Selbst dann, wenn die Frauen bei ihren Versammlungen manchmal so gefühlsbetont und kopflos agierten, dass ihr die Galle hochstieg, blieb sie äußerlich ruhig, und daran durfte auch diese schmerzliche Enttäuschung nichts ändern.
Ruckartig blieb sie mitten auf der Straße stehen. Ein Automobil hupte, und sie drohte dem vornehm gekleideten Fahrer mit der Faust, der sie daraufhin aus dem Auto heraus als »teuflisches Mannweib« bezichtigte.
Nie hätte sie sich auf diese dumme, oberflächliche Freundschaft zu Demys Lesezirkeldamen einlassen dürfen! Sie gehörten alle der wohlhabenden Industriellenschicht an und hatten immer auf sie herabgesehen. Und diese Lina besaß sogar den Nerv, ihr Anton wegzunehmen! Womöglich war es ihr gar nicht darum gegangen, den heimatlosen, verarmten Fabrikarbeiter mit seiner Vorliebe für Physik zu fördern, sondern sie hatte schon damals ein Auge auf ihn geworfen gehabt! So agierten sie doch, die Adeligen und Industriellen: Sie bekamen nie genug! Immerzu spielten sie ihren Einfluss und ihre Macht zu ihrem eigenen Vorteil aus!
Selbst Demy hatte sie mittlerweile im Stich gelassen. Zugegeben, die Niederländerin unterrichtete nach wie vor Lieselottes Zwillingsbrüder, und dank ihrer Hilfe hatten es die beiden auf eine Realschule geschafft. Aber hätte Demy einen großzügigeren Geldgeber aufgetrieben, wäre es den Jungs mit ihrem ausgezeichneten Notendurchschnitt ein Leichtes gewesen, das Gymnasium zu besuchen. Hier hatte Demy versagt! Womöglich wollte sie nicht, dass die Lümmel aus dem Scheunenviertel mit der Oberschicht Berlins eine Schulbank drückten? Immerhin hatte sie lange Zeit versucht, Lieselotte gegenüber zu verheimlichen, dass sie nicht nur im Dienste von Tilla Meindorff stand, sondern deren Schwester war. Demy gehörte ebenfalls zu denen, die ihren Einfluss missbrauchten und …
Erneut hupte ein ungeduldiger Autofahrer, was Lieselotte veranlasste, endlich den schmalen Streifen freizugeben, der neben still stehenden Straßenbahnen und vorbeiexerzierenden Rekruten noch für die Automobile übrig blieb. Hatte sie denn nur Pech im Leben, immerzu das Nachsehen? Ihre Enttäuschung und der Schmerz, den sie empfand, verwandelten sich in düstere Bitterkeit. Sie gönnte Lina ihr Glück nicht. Fast wünschte sie, Anton müsste an die Front abrücken, weit weg von seinem oberflächlichen, auf Rosen gebetteten Liebchen.
Kapitel 6
Bei den Argonnen, Frankreich,
August 1914
Eine Fliege krabbelte über Demys Gesicht und sie vertrieb das lästige Insekt mit einer flüchtigen Handbewegung. Dabei rutschte etwas Schweres, das wärmend auf ihr gelegen hatte, von ihrem provisorischen Lager auf den schmutzigen Scheunenboden. Ein wenig steif setzte sie sich auf und hob Philippes mit Lammfell gefütterte Jacke auf. Er war demnach zurückgekehrt, stellte sie mit großer Erleichterung fest, war aber gleichzeitig etwas irritiert darüber, dass er einfach die Scheune betreten und sich ihr im Schlaf genähert hatte.
Doch dann wies sie diese Überlegungen als kleinlich von sich und stand auf. Sie schüttelte ihre Kostümjacke aus, schlüpfte hinein und trat, die Lammfelljacke und die Decke in den Händen, ins Tageslicht hinaus. Verwundert sah sie, wie hoch die Sonne bereits am Himmel stand und ihre wärmenden Strahlen über das Land schickte. Hatte sie so
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