Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Margaretes rotblonde Locken und ihr zartes Gesicht.
Lina! , schoss ihm durch den Sinn. Wo Margarete sich aufhielt, war meist die Tochter von Professor Barna nicht fern. Margaretes von Kopf bis zu den Füßen ramponiertes Äußeres ließ ihn schnell reagieren. Er hangelte sich am Geländer entlang, bis er sich ihr genähert hatte. Tränen liefen über ihr schmutziges Gesicht und ihre aufgerissenen Augen sprachen von der Angst, die sie empfand.
»Ich habe Lina verloren! Sie ist gestürzt, gleich hier auf der Brücke!«, rief Margarete ihm gegen den erneut aufbrandenden Jubel der Menschen zu.
Anton beugte sich nach vorn, um an dem Marmorsockel vorbei in die Richtung zu schauen, aus der Margarete gekommen war. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Seit er vor rund sechs Jahren in die Dachkammer im Haus Barna einziehen durfte, liebte er Lina. Geraume Zeit hatte er seine Zuneigung für Dankbarkeit gehalten, da Lina ihm ermöglicht hatte, aus dem heruntergekommenen Scheunenviertel und einer schweren, aber brotlosen Arbeit in der Fabrik zu entkommen, um unter den Fittichen ihres Vaters Physik zu studieren. Obwohl er eines Tages erkannt hatte, wie tief seine Gefühle für sie gingen, hatte er es nie gewagt, sie darauf anzusprechen. Lina mochte fröhlich und unkompliziert sein, doch sie blieb die Tochter seines Gönners und dazu ein Mädchen aus der gehobenen Bürgerschicht. Sie war tabu für ihn, den einfachen Burschen, der früher nicht einmal eine eigene Wohnung besessen hatte, sondern gegen ein Entgelt als Schlafbursche bei einer Familie untergekommen war.
Kalte Angst griff nach seinem Herzen. Die Menschenmenge bewegte sich von links nach rechts, von vorne nach hinten, und immer mehr Berliner drängten herbei. Inzwischen versuchten Polizisten Ordnung in den unaufhaltsamen Strom eintreffender Bürger zu bringen, aber wie schnell konnte unter den Füßen der aufgepeitschten Menge ein Mensch zu Tode kommen?
Die Feiernden begannen zu singen. Während Tausende Kehlen Nun danket alle Gott 6 intonierten, stockte Anton der Atem. An dem Sockel des nächsten Brückenpfeilers drängten sich mehrere Menschen und hinter ihnen, so eng an den Stein gepresst, als wolle sie mit ihm verschmelzen, glaubte er Lina zu sehen.
»Bleiben Sie hier, Frau Groß, direkt am Pfeiler. Notfalls klettern Sie hinüber, auf die andere Seite des Geländers«, rief er und sprang von der Brüstung mitten zwischen die Passanten. Dabei streifte er einen bulligen Mann derb an der Schulter. Dieser drehte sich mit wütendem Gesichtsausdruck nach ihm um und griff nach dem Störenfried.
Anton, zwar groß gewachsen, aber als ausschließlich mit dem Geiste arbeitender Mensch nicht gerade mit viel Muskelkraft ausgestattet, duckte sich und zwängte sich zwischen anderen Anwesenden hindurch. Zielsicher steuerte er den nächstgelegenen Brückenpfeiler an, obwohl er, eingekeilt in der Menge, nicht mehr sehen konnte, was dort vor sich ging. Sein langsames Vorankommen ließ ihn zunehmend verzweifelter, aber auch wütender werden. Schließlich stellte sich ihm ein kräftiger Jugendlicher mit herausforderndem Blick in den Weg. Offensichtlich war er dem rücksichtslos drängelnden Studenten gegenüber auf Streit aus.
Ohne lange nachzudenken schlug Anton dem Kerl die geballte Faust ins Gesicht. Aus der Nase seines Gegners schoss Blut, und noch ehe dieser seine Hände an den Quell des Schmerzes legen konnte, huschte Anton an ihm vorbei. Endlich erreichte er erneut das Geländer, hangelte sich an diesem entlang und entdeckte Lina, kaum zwei Schritte entfernt. Eingekeilt zwischen mehreren Männern schien sie den rötlichen Sockel zu umarmen. Ihre Augen waren geschlossen, und die bläuliche Farbe ihrer Lippen steigerte seine Angst um sie.
»Lina!«, rief er und boxte wild um sich, bis es ihm gelang, zu ihr vorzudringen. Anton rammte dem Hünen, der sie an die Brüstung quetschte, den Ellenbogen in die Seite, und als der Mann sich ihm eher verwundert als aufgebracht zuwandte, sackte Lina wie eine leblose Puppe in sich zusammen. Entsetzt sah der große Fremde sie an und bemühte sich, sie wieder auf die Beine zu stellen, dabei rief er aus: »Mein Gott, ich habe sie gar nicht bemerkt!«
Wieder drängte die Menge in ihre Richtung. Sowohl Anton als auch der erschrockene Mann mit der schlaffen Lina im Arm wurden rücksichtslos gegen die verzierte und mit Figuren bestückte Brüstung gedrückt.
Beherzt sprang Anton auf die Querverstrebung und kletterte auf die gegenüberliegende
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