Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
schwelenden Glut nun eine drohende Feuersbrunst.
Wenn Rasputin jetzt zurückkehrte, um erneut Einfluss auf die Zariza und den Zaren auszuüben, könnte neben dem Hass der Sozialisten auf ihren Autokraten und dessen adelige Gefolgschaft ein zweiter Kampfschauplatz innerhalb des Zarenreiches entstehen: Dieser »Krieg« würde von dem einen oder anderen Aristokraten bestritten werden, die zumeist zur Regierung oder zum Militär gehörten, und sich gegen Rasputin richten!
Anki stieg mit Ljudmila in die zweite Kutsche der Chabenskis. Da ihre Begleiterin weiterhin in düsterem Schweigen verharrte, hing Anki ungestört ihren Gedanken nach, die nicht unbedingt angenehmer Natur waren. War sie dabei, einen Fehler zu begehen, indem sie noch länger in Russland blieb, selbst wenn die Chabenskis ihr Schutz zugesagt hatten? Sollte sie nicht wie viele andere Deutsche Petrograd lieber den Rücken kehren und nach Hause gehen?
Ein Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Es gab für sie kein Zuhause mehr. Der Gutshof in Koudekerke war verkauft, die Geschwister lebten in Berlin, wobei Demy ihr in den vergangenen Jahren immer wieder geschrieben hatte, wie wenig willkommen sie sich dort fühlte. Anki war alt genug, um einer Arbeit nachzugehen und sich einen eigenen bescheidenen Hausstand zu leisten. Aber eine Anstellung musste erst gefunden werden, und da gab es zwei Probleme: die ohnehin eklatante Arbeitslosigkeit in Berlin, die sich für Frauen in Erziehungsberufen während des Krieges bestimmt verschärfte, und die unterbrochenen Postverbindungen. Sie konnte Demy nicht einmal bitten, nach einer geeigneten Stellung und einer Wohnung für sie Ausschau zu halten, denn es gelangten keine Briefe mehr ins Deutsche Kaiserreich. Ihre letzte Nachricht an die Geschwister, dass sie vorhabe, den Krieg hier in Petrograd auszusitzen, hatte sie dem Lehrer Michael Maier mitgegeben.
Ein Wagenrad senkte sich ruckartig in ein vom Regen ausgewaschenes Loch in der Straße. Anki wurde unsanft gegen die Seitenwand geschleudert und schrak aus ihren Gedanken auf.
Ljudmila schien der derbe Stoß nichts ausgemacht zu haben. Allerdings deutete ihre düstere Miene darauf hin, dass sie noch weitaus tiefer in ihre Gedanken- und Gefühlswelt versunken war als Anki. Mit einem Blick auf die tief stehende, blasse Sonne entschied die nicht eben abenteuerlustige Anki, dass es in diesen Zeiten wohl gleichgültig war, wo sie sich aufhielt. In Russland hatte sie zumindest ein sicheres Zuhause, Zöglinge, die sie liebte, und Arbeitgeber mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Außerdem band Ljudmila sie in zunehmendem Maße an sich und schien ihre Nähe zu brauchen, und sie konnte sie nicht einfach im Stich lassen …
***
Eine goldene Herbstsonne wärmte das Innere des Wintergartens, tauchte die erlesenen, aus dunklem Holz gefertigten Stühle, Tische und Kommoden in ein faszinierendes rötliches Licht und offenbarte die bunten Kleckse auf dem sorgfältig mit Papier ausgelegten Fußboden. Der Geruch von Farbe verdrängte das durch die geöffneten Türen und Fenster dringende Duftgemisch aus feuchtem Laub, frisch gepflügten Feldern und überreifen Äpfeln.
Anki lobte gerade die mit viel Schwung auf die Leinwand aufgebrachten Farbkombinationen von Jelena, als sie von ihrer Arbeitgeberin zu einem Gespräch gebeten wurde. Eilig verließ sie den Wintergarten und trat in den Flur, der für ein Fürstenhaus ungewöhnlich schmal und einfach gehalten war. Fürstin Chabenski musterte sie mit einer Sorgenfalte auf der Stirn, bevor ein Lächeln ihr Gesicht erhellte. »Sie haben Besuch, Anki. Dr. Busch erwartet Sie draußen. Er bat mich, Sie für kurze Zeit von Ihren Aufgaben zu entbinden.«
»Das ist …« Anki spürte, wie die Hitze in ihren Kopf stieg. »Das ist nicht nötig, Hoheit. Dr. Busch findet bestimmt auch gegen Abend Zeit …«
»Nun gehen Sie schon. Der junge Herr wartet auf Sie!«, sagte die Fürstin schmunzelnd.
»Danke, Hoheit«, murmelte Anki und sah sich nach den drei Mädchen um. Diese drängten sich in der Tür und beobachteten ihre Njanja neugierig, wobei sie mit ihren weißen Schürzen über den hellblauen Kleidchen wie kleine Wolken aussahen. Zögernd band Anki sich ihre Schürze ab, legte sie zusammen und wollte sie zurück in den Wintergarten bringen.
Doch Fürstin Chabenski trat zu ihr und nahm ihr sanft die Baumwollschürze aus den bebenden Händen. »Wovor fürchten Sie sich? Jetzt, da ich weiß, wer Ihnen den Fliederstrauß geschickt hat, bin ich ganz
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