Sturz Der Engel
»Siehst du den Unterschied?«
Nylan nickte höflich. Ein Unterschied, den er bemerkt hatte, war der, dass Gerlich den Kompositbogen nicht voll durchgezogen hatte.
»Ich bleibe bei meinem eigenen Bogen und meinen Zahnstochern, wenn du nichts dagegen hast. Die kleineren Waffen sind für die Marineinfanteristinnen geeignet.« Gerlich hielt inne. »Ist das alles, Ingenieur?«
»Das ist alles.«
»Ich muss mich jetzt darum kümmern, dass wir etwas in die Kochtöpfe bekommen.« Gerlich ging zu den Bäumen, sammelte die Pfeile ein und überprüfte sie. Als Letztes richtete er die Zielscheiben neu aus. Dann hob er einen Arm zum Gruß und wanderte rasch zur Schlucht davon.
Nylan folgte ihm etwas langsamer. Er dachte über Gerlich und den Bogen nach. Warum hatte der Mann nicht voll durchgezogen? Hatte er Angst, das Metall könnte brechen? Nylan würde ihm doch nie einen Bogen geben, der versagen konnte.
»Ist das Euer neuer Bogen?« Istril kam Nylan entgegen geritten, als dieser sich der Zufahrt zum Turm näherte. »Darf ich ihn mal probieren?«
Nylan zuckte mit den Achseln und gab ihr die Waffe. »Gerlich war nicht gerade beeindruckt. Er meinte, der Bogen wäre zu schwach.«
Istril lachte. »Rohe Kraft ist nicht das Einzige, was zählt.« Sie probierte den Zug der Sehne. »Er scheint so stark gespannt zu sein wie sein eigener.« Sie sah Nylan an. »Wir haben oben in der Nähe der Schlucht ein Übungsgelände. Wollt Ihr sehen, wie er funktioniert?«
Nylan blickte nach Westen, wo die Sonne knapp über den Gipfeln stand. Vor dem Abendessen würde er sowieso nicht mehr viel schaffen. »Also gut.«
»Dann steigt hinter mir auf«, lud die Marineinfanteristin ihn ein. »Benja kann uns die kurze Strecke auch beide tragen, so geht es schneller.«
»Bist du sicher?«
»Natürlich.«
Nylan kletterte unbeholfen hinter der schlanken Marineinfanteristin aufs Pferd.
»Ihr müsst schon einen Arm um mich legen, Ingenieur, sonst werdet Ihr nach vier Schritten abgeworfen.«
Nylan errötete, aber er gehorchte und Istril ließ die Zügel schnalzen. Nylan wurde wie üblich ziemlich durchgeschüttelt, doch Istril schien mit dem Sattel verwachsen zu sein und schaffte es sogar, das primitive Tor zu öffnen und zu schließen, ohne abzusteigen. Als sie die Koppel erreichten, rutschte Nylan dankbar herunter. »Danke. Ich mache mich besser im Sattel als dahinter.«
»Genau wie die meisten anderen Leute, Ser.« Istril stieg ab und nahm Benja den Sattel ab. »Stört es Euch, wenn ich sie kurz abreibe?«
»Natürlich nicht.« Während sie ihr Pferd versorgte, ging Nylan zur Schlucht, wo er die Steine geschnitten hatte. Die Wände der Ställe waren fast fertig gemauert, neben den Mauern waren Balken aus rohem Tannenholz gestapelt. Geduckt trat er ein und betrachtete das Innere.
Die Dachbalken würden nur knapp über Kopfhöhe liegen, aber die Pferde hätten wenigstens einen Unterschlupf. Er ging wieder nach draußen.
Aus einem kleinen, eilig mit Ziegelsteinen abgetrennten Bereich drang das Gackern der Hühner und der unverkennbare Geruch von Geflügel wehte herüber.
Nylan drehte sich um und ging ein Stück bergab.
Istril klopfte gerade Benja auf die Flanke und die Stute wieherte leise und trottete zum Wassertrog.
»Die Ziele sind da oben auf der anderen Seite.« Istril wanderte zielstrebig bergauf. Nylan folgte ihr und fragte sich, wie die schlanke Wächterin abends noch so viel Energie haben konnte.
Nicht lange und sie blieb wieder stehen. »So, da wären wir.«
Drei menschenähnliche Puppen – anscheinend aus verflochtenen Tannenzweigen geformt – standen vor der grauen Wand der Schlucht.
»Das graue Zeug dahinter ist Sand und Erde. Es bringt ja nichts, die Pfeilspitzen zu ruinieren.« Istril legte mit einer fließenden Bewegung einen Pfeil ein und ließ ihn fliegen.
Mit sattem Geräusch landete der Pfeil im Ziel, genau an der Stelle, wo das Herz des Feindes gewesen wäre.
»Schön!«, rief sie.
»Gerlich meinte, er wäre nicht stark genug.«
»Der verdammte Narr. Ich bitte um Verzeihung, Ser, aber genau das ist er.« Istril schoss einen weiteren Pfeil ab, der direkt neben dem ersten einschlug. »Eine schöne Waffe, Ser, und sie hat einen strammen Zug. Ich werde es Euch zeigen. Kann sein, dass es mich einen Pfeil kostet, aber es kann nicht schaden, wenn wir es herausfinden.«
Die Marineinfanteristin ging zum Ziel ganz auf der rechten Seite. Sie bückte sich, holte hinter dem Ziel einen verbeulten Brustharnisch hervor und
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