Sturz Der Engel
seiner Brust, unter Jacke, Mantel und Hemd verborgen, ein Beutel, in dem ein zylindrischer Gegenstand steckt. Er unterdrückt ein Schaudern, als er an den Gegenstand denkt, und konzentriert sich wieder darauf, möglichst schnell die wärmeren Gefilde jenseits der Westhörner zu erreichen, wo man nicht im Nu zur Eissäule erstarrt.
Er setzt einen Fuß vor den anderen.
LXXIII
N ylan blickte vom Bett zum halb geöffneten Turmfenster. Draußen lag Sonnenschein auf den Schneeflächen, in denen sich bereits hier und dort Bäche bildeten und grauen Matsch wegschwemmten, der seinerseits die Straßen und Wege in kleine Sümpfe verwandelte. An manchen Stellen schauten durch die dünner werdende Schneedecke sogar schon wieder braune Erde, dunkelgraue Felsen und fahlbraun gebleichtes totes Gras hervor. Trotz der ausgelegten Tannenzweige war der größte Teil der Strecke vom Turm bis hinauf zu den Ställen eher ein Schlammloch als ein Pfad.
An der Ostseite des Turms hatte sich ein See von Schmelzwasser gebildet, der nachts überfror und tagsüber auftaute. Aus dieser Richtung wirkte der Turm tatsächlich wie die mit einem Graben geschützte Burg, die Nylan nicht hatte bauen wollen.
Er sah zu Ryba, die ins Leere starrte und sich darauf konzentrierte, gleichmäßig zu atmen. Auf einer Seite der Liege stand Ayrlyn, die Finger leicht auf Rybas angeschwollenen Bauch gelegt. Neben ihr stand Jaseen.
»Mir ist so heiß«, keuchte die Marschallin.
Die zusammengeschobenen Liegen standen jetzt näher am Fenster, weil der schmelzende Schnee bewies, dass es mehr als nur ein paar Lecks im Dach gab, aus denen das Wasser in das oberste Stockwerk des Turmes tropfen konnte.
Nylan nahm ein verschlissenes, aber sauberes Tuch, um Rybas feuchte Stirn abzutupfen, dann legte er ihr die Hand auf die Stirn.
»Das tut gut.«
»Schön«, erwiderte Nylan.
»Nur ein bisschen pressen … sanft …«
»Tut so weh … spannt so sehr …«, antwortete die Marschallin. »Dyliess?«
»Es geht ihr gut, Ryba«, beruhigte Ayrlyn sie.
»Ich bin nicht …« Ryba schauderte. »Jetzt ist mir kalt.«
Nachdem er ihr Decken um die Schultern gelegt hatte, tupfte Nylan noch einmal Rybas feuchte Stirn ab. »Ruhig«, sagte er. »Es wird schon werden.«
»Du hast … du hast gut reden.«
»Ich weiß.« Nylan versuchte, unbefangen zu antworten. Allerdings konnte er dank seiner Wahrnehmung spüren, dass Rybas Wehen gut verliefen, soweit man von Geburtswehen, von den Anstrengungen und den damit verbundenen Schmerzen überhaupt sagen durfte, dass sie gut verließen.
»Etwas fester … pressen.«
»Ich presse schon …«
»Halt …«
»Erst soll ich pressen, dann wieder nicht … nun entscheide dich doch.«
Nylan musste sich ein Grinsen verkneifen. Nicht einmal bei der Geburt ihres Kindes ließ Ryba sich die typische Schroffheit nehmen.
»Wir versuchen, dich und Dyliess so wenig wie möglich zu belasten.«
»… wenig belasten?«
Jaseen nickte, sagte aber nichts.
Nylan tupfte den Schweiß von Rybas Stirn und drückte sanft ihren Arm.
»Pressen!«, verlangte Ayrlyn.
Die Marschallin presste und lief rot an.
»Du musst natürlich auch atmen«, bemerkte Ayrlyn nach der Wehe.
»So heiß …«, keuchte Ryba.
Nylan nahm ihr die Decken von den Schultern.
»Also … jetzt geht es los …«, sagte Ayrlyn.
Nylan stand die ganze Zeit dabei, berührte Ryba von Zeit zu Zeit und flößte ihr etwas Ordnung ein, auch wenn die Ordnung nicht wirklich wichtig war. Am Ende tauchte ein kleiner Kopf auf und Jaseen zog das kleine, blutige Ding ans Licht auf dem Dach der Welt.
»Gleich musst du noch einmal pressen«, sagte Ayrlyn.
»Ich … ich weiß. Lass mich sie sehen«, keuchte Ryba.
Als die Nabelschnur abgebunden und durchgeschnitten war, legte Ayrlyn das neugeborene Mädchen auf Rybas Brust. Dyliess schien sich umzusehen, drehte den Kopf zur Brust der Mutter, öffnete den Mund und wollte trinken.
»Du kleines Schweinchen«, murmelte Ryba.
»Wie die Mutter«, bestätigte Nylan. »Sie konzentriert sich auf das, was wichtig ist.«
Er berührte seine Tochter mit den Sinnen, betrachtete ihr Haar, das silbern werden würde, und das schmale Gesicht, dem man die svennischen Anteile ansehen konnte. In gewisser Weise fühlte sie sich beinahe an wie Kyalynn, Sirets silberhaarige Tochter.
Nylan schluckte, dann schaute er zum Fenster. Es wurde Frühling, der Schnee schmolz und durch die weißen Flecken drangen die ersten grünen Sprossen.
Nicht jetzt, dachte er, nicht
Weitere Kostenlose Bücher