Sturz der Titanen
stärkere Kraft als familiäres Pflichtbewusstsein.
Es war Sonntagabend, aber in London herrschte keine Ruhe. Zwar tagte das Parlament nicht, und die Mandarine von Whitehall waren auf ihre Anwesen in der Vorstadt zurückgekehrt, aber in den Palästen von Mayfair, den Gentlemen Clubs von St. James und den Botschaften wurde weiter Politik gemacht. Auf den Straßen erkannte Walter mehrere Parlamentsmitglieder, Staatssekretäre des Außenministeriums und europäische Diplomaten. Er fragte sich, ob Großbritanniens Vögel beobachtender Außenminister, Sir Edward Grey, wohl auch übers Wochenende in der Stadt geblieben war, anstatt in sein geliebtes Landhaus in Hampshire zu fahren.
Walter fand seinen Vater am Schreibtisch vor, wo er entschlüsselte Telegramme las. »Das ist jetzt vielleicht nicht der beste Zeitpunkt, dir meine Neuigkeit mitzuteilen, aber …«, begann Walter.
Otto grunzte und las weiter.
Walter wagte sich weiter vor. »Ich liebe Lady Maud.«
Otto hob den Blick. »Fitzherberts Schwester? Das dachte ich mir. Mein aufrichtiges Beileid.«
»Bitte, bleib ernst, Vater.«
» Du solltest ernst bleiben.« Otto warf die Papiere hin, in denen er las. »Maud Fitzherbert ist eine Suffragette und Rebellin. Sie ist für niemanden als Frau geeignet, schon gar nicht für einen deutschen Diplomaten aus gutem Hause. Ich will nichts mehr davon hören.«
Walter biss die Zähne zusammen und hielt seinen Zorn im Zaum. »Sie ist eine wunderbare Frau, und ich liebe sie. Also sprich gefälligst höflich von ihr, was immer du von ihr denkst.«
»Ich werde dir sagen, was ich von ihr denke« erwiderte Otto sorglos. »Sie ist grauenhaft.« Er schaute wieder auf die Telegramme.
Walters Blick fiel auf die durchbrochene Schüssel aus seines Vaters Sammlung. »Nein«, sagte er und ergriff das teure Stück. »Du wirst nicht sagen, was du denkst.«
»Sei vorsichtig mit der Schüssel.«
Jetzt hatte Walter die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Vaters. »Ich habe ein genauso großes Schutzbedürfnis gegenüber Lady Maud wie du für diesen Ramsch hier.«
»Ramsch? Soll ich dir sagen, wie viel …«
»Aber die Liebe ist viel stärker als die Gier eines Sammlers.« Walter warf das zerbrechliche Objekt in die Luft und fing es mit einer Hand wieder auf. Sein Vater stieß einen unartikulierten Schrei aus, doch Walter machte einfach weiter. »Wenn du Lady Maud beleidigst, tut mir das genauso weh, wie es dir wehtun würde, wenn ich bei diesem Ding danebengreife.«
»Unverschämter Bengel …«
Walter hob die Stimme, um seinen Vater zu übertönen. »Wenn du weiter auf meinen Gefühlen herumtrampelst, lass ich deine hässliche Suppenschüssel fallen.«
»Schon gut, ich habe verstanden. Jetzt stell sie wieder hin, um Himmels willen.«
Walter deutete dies als Nachgeben und stellte die Schüssel auf den Beistelltisch zurück.
Mit einem bösen Funkeln in den Augen sagte Otto: »Aber da ist noch etwas, was du in Betracht ziehen solltest … falls ich das sagen darf, ohne auf deinen Gefühlen herumzutrampeln.«
»Nur heraus damit.«
»Sie ist Engländerin.«
»Um Himmels willen!«, rief Walter. »Wohlgeborene Deutsche haben schon seit Ewigkeiten in den englischen Adel eingeheiratet. Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha hat Königin Viktoria geheiratet, und sein Enkel ist jetzt König von England. Und die Königin ist eine württembergische Herzogstochter!«
Otto hob ebenfalls die Stimme. »Die Dinge haben sich geändert! Die Engländer sind entschlossen, uns Deutsche kleinzuhalten. Sie freunden sich mit unseren Feinden an, mit Russland und Frankreich. Du würdest eine Feindin deines Vaterlandes heiraten!«
Walter wusste, wie die alte Garde dachte, aber was sein Vater da von sich gab, war absurd. »Es sollte keine Feindschaft zwischen unseren Völkern geben«, sagte er verzweifelt. »Dafür gibt es keinen Grund.«
»Die Russen, Franzosen und Engländer werden nie zulassen, dass wir mit ihnen gleichziehen.«
»Das stimmt nicht!« Walter bemerkte, dass er seinen Vater schon wieder anbrüllte, und riss sich zusammen. »Die Engländer glauben an den freien Handel. Sie erlauben uns, unsere Waren im gesamten Empire zu verkaufen.«
»Dann lies mal das hier.« Otto warf Walter eines der Telegramme zu. »Seine Majestät der Kaiser hat mich um einen Kommentar gebeten.«
Walter nahm das Telegramm. Es war der Entwurf einer Antwort auf den Brief des österreichischen Kaisers. Walter las das Schreiben mit wachsender Sorge. Es endete mit den
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