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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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die Antwort, denn sie hatte nie zuvor etwas so intensiv empfunden wie ihre Liebe zu Walter. Einander berühren zu können, wann immer man wollte, musste der Himmel auf Erden sein.
    Maud dachte oft darüber nach, wie ihr gemeinsames Leben aussehen würde. Ein paar Jahre lang würden sie vermutlich in verschiedenen Botschaften tätig sein und durch die Welt reisen: Paris, Rom, Budapest, vielleicht sogar weit in die Ferne: Addis Abeba, Tokio, Buenos Aires. Sie dachte an die biblische Geschichte von Ruth: »Wo du hingehst, dahin gehe auch ich.« Ihre Söhne würden lernen, Frauen als gleichberechtigt zu behandeln, und ihre Töchter würden zur Unabhängigkeit erzogen werden.
    Später würden sie und Walter sich vielleicht in einem Stadthaus in Berlin niederlassen, sodass ihre Kinder gute deutsche Schulen besuchen konnten. Irgendwann würde Walter das Landgut seines Vaters erben, Zumwald in Ostpreußen. Und wenn sie alt waren und die Kinder aus dem Haus, würden sie mehr Zeit auf dem Land verbringen, Hand in Hand über das Gut schlendern, abends gemeinsam lesen und darüber sinnieren, wie die Welt sich seit ihrer Jugend verändert hatte.
    Maud konnte kaum noch an etwas anderes denken. Sie saß in ihrem Büro in der Calvary Gospel Hall, starrte auf die Medikamentenpreisliste und musste daran denken, wie Walter vor der Salontür der Herzogin an seiner Fingerspitze gesaugt hatte. Allmählich fiel den Leuten auf, dass sie immer öfter in Gedanken versunken war. Dr. Greenward hatte sie sogar schon gefragt, ob sie sich nicht wohlfühle, und Tante Herm hatte sie ermahnt, nicht in den Tag hinein zu träumen.
    Maud versuchte, sich auf das Bestellformular zu konzentrieren, wurde diesmal aber von einem Klopfen unterbrochen. Tante Herm steckte den Kopf durch die Tür und sagte: »Da ist jemand, der dich sehen möchte.« Sie blickte geradezu ehrfürchtig drein, als sie Maud eine Visitenkarte reichte.
    GENERALMAJOR OTTO VON ULRICH
Attaché
Botschaft des Deutschen Reiches
Carlton House Terrace, London
    »Du liebe Güte, Walters Vater!«, rief Maud.
    »Was soll ich ihm sagen?«, flüsterte Tante Herm.
    »Frag ihn, ob er Tee oder Sherry möchte, und führe ihn herein.«
    Otto von Ulrich war förmlich gekleidet in einen schwarzen Frack mit Seidenrevers, weißer Pikeeweste und gestreifter Hose. Sein rotes Gesicht schwitzte in der Sommerhitze. Er war rundlicher als Walter und sah nicht so gut aus, doch beide hatten die gleiche militärisch straffe Körperhaltung.
    Maud legte ihre gewohnt sorglose Art an den Tag. »Mein lieber Herr von Ulrich! Ist das ein förmlicher Besuch?«
    »Ich möchte mit Ihnen über meinen Sohn reden«, entgegnete Otto. Sein Englisch war fast so gut wie Walters, obwohl er im Unterschied zu seinem Sohn einen hörbaren deutschen Akzent besaß.
    »Sehr freundlich von Ihnen, so schnell auf den Punkt zu kommen«, erwiderte Maud mit einem Hauch von Spott, der Otto jedoch zu entgehen schien. »Bitte, nehmen Sie Platz. Lady Hermia wird Erfrischungen kommen lassen.«
    »Walter stammt aus einem alten Adelsgeschlecht«, sagte Otto ohne Umschweife.
    »Genau wie ich«, erwiderte Maud.
    »Wir sind traditionsverhaftet, konservativ und fromm, vielleicht sogar ein bisschen altmodisch.«
    »Genau wie meine Familie«, sagte Maud.
    Das lief nicht so, wie Otto es geplant hatte. »Wir sind Preußen«, sagte er mit verzweifeltem Unterton.
    »Ah«, sagte Maud, als verstünde sie jetzt endlich. »Und wir sind Angelsachsen.«
    Sie focht mit ihm, als wäre es bloß ein intellektuelles Geplänkel, doch tief im Inneren hatte Maud schreckliche Angst. Warum war dieser Mann gekommen? Was bezweckte er damit? Maud hatte das untrügliche Gefühl, dass er nichts Gutes im Schilde führte. Er war gegen sie. Er würde versuchen, sich zwischen sie und Walter zu drängen.
    Auf jeden Fall war er nicht zu Scherzen aufgelegt. »Deutschland und Großbritannien liegen im Streit. Die Engländer freunden sich mit unseren Feinden an, mit Frankreich und Russland. Somit ist auch Ihr Heimatland unser Feind.«
    »Tut mir leid, dass Sie so denken. Viele sehen das allerdings anders.«
    »Die Wahrheit wird nicht von einem Mehrheitsvotum bestimmt.« Maud bemerkte einen Hauch von Schärfe in Otto von Ulrichs Stimme. Er war es nicht gewohnt, kritisiert zu werden, erst recht nicht von einer Frau.
    Dr. Greenwards Krankenschwester brachte Tee auf einem Tablett und schenkte ein. Otto schwieg, bis die Schwester gegangen war; dann sagte er: »In ein paar Wochen befinden wir uns

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