Sturz der Titanen
Nässe einem langsam die Hosenbeine hinaufkroch und sich auf dem Hemdrücken sammelte.
Der Streik war im August zu Ende gegangen, nach Ausbruch des Krieges, und die Bergarbeiter waren wieder an die Arbeit gegangen. Die meisten hatten ihren alten Job zurückbekommen und waren wieder in ihre alten Häuser gezogen. Ausnahmen hatte man nur bei denen gemacht, die von der Bergwerksdirektion als Unruhestifter betrachtet wurden; die meisten von ihnen dienten jetzt bei den Welsh Rifles. Die Witwen, denen man die Häuser gekündigt hatte, waren woanders untergekommen. Und Streikbrecher wurden nicht mehr geschnitten: Die Einheimischen waren zu dem Schluss gelangt, dass auch die Ausländer nur vom kapitalistischen System ausbeutet wurden.
Doch Lew war nicht aus Sankt Petersburg geflohen, um sich in Wales unter Tage abzurackern. Natürlich war Großbritannien besser als Russland: Hier waren Gewerkschaften erlaubt, die Polizei konnte nicht alles tun und lassen, was sie wollte, und sogar Juden besaßen Rechte. Gleichzeitig wollte Lew sich nicht mit einem Leben voll zermürbender Arbeit in einem Bergarbeiternest am Rande des Nirgendwo begnügen. Das war es nicht, wovon er und Grigori geträumt hatten. Hier war nicht Amerika.
Selbst wenn Lew versucht gewesen wäre, in Aberowen zu bleiben – er schuldete es Grigori, weiterzumachen. Er wusste, dass er seinem Bruder übel mitgespielt hatte, und er hatte sich geschworen, ihm das Geld für seine Fahrkarte zu schicken. In seinem kurzen Leben war Lew schon mehr als einmal wortbrüchig geworden, hatte aber die feste Absicht, diesmal Wort zu halten.
Das Geld für die Überfahrt von Cardiff nach New York hatte er fast schon zusammen. Es lag unter einer Fliese in der Küche seines Hauses an der Wellington Row versteckt, zusammen mit seinem Revolver und dem Pass seines Bruders. Von seinem Wochenlohn hatte er die Summe natürlich nicht gespart; der Lohn reichte gerade für Bier und Tabak. Nein, Lews Ersparnisse stammten aus dem wöchentlichen Kartenspiel.
Mit Spirja arbeitete er nicht mehr zusammen. Der junge Mann hatte Aberowen nach wenigen Tagen verlassen und war nach Cardiff zurückgekehrt, um sich leichtere Arbeit zu suchen. Doch einen gierigen Menschen zu finden war niemals schwer, und Lew hatte sich mit einem Steiger namens Rhys Price angefreundet. Lew sorgte dafür, dass Price häufig gewann, und hinterher teilten sie den Gewinn. Wichtig war dabei, es nicht zu übertreiben: Hin und wieder musste auch ein anderer gewinnen. Wenn die Kumpel merkten, was vor sich ging, bedeutete es nicht nur das Ende des Kartenbetrugs; sie würden Lew wahrscheinlich totschlagen. Deshalb wuchsen seine Ersparnisse nur langsam, und er konnte es sich nicht leisten, eine kostenlose Mahlzeit auszuschlagen.
Der Pope wurde stets vom Automobil des Earls am Bahnhof abgeholt. Man fuhr ihn nach Ty Gwyn, wo er Sherry und Kuchen bekam. Wenn Fürstin Bea auf dem Herrensitz weilte, begleitete sie den Popen zur Bibliothek und betrat den Lesesaal unmittelbar vor ihm, was ihr ersparte, allzu lange mit gewöhnlichen Menschen in einem Raum zu warten.
Heute zeigte die große Uhr an der Wand des Lesesaals wenige Minuten nach elf, als Bea eintrat. Zum Schutz gegen die Februarkälte trug sie Hut und Mantel aus weißem Pelz. Lew unterdrückte einen Schauder: Er konnte sie nicht anschauen, ohne das grenzenlose Entsetzen eines Sechsjährigen zu empfinden, der zusehen muss, wie sein Vater gehenkt wird.
Der Pope folgte in einem cremefarbenen Gewand mit goldener Schärpe. Heute wurde er zum ersten Mal von einem anderen Mann im Ornat eines Priesterschülers begleitet – in dem Lew zu seinem Entsetzen seinen früheren Komplizen Spirja erkannte.
Lews Gedanken überschlugen sich, während die beiden Geistlichen die fünf Brotlaibe vorbereiteten und den Rotwein für den Gottesdienst verwässerten. Hatte Spirja zu Gott gefunden und sich geändert? Oder war das Priestergewand für ihn nur ein neuer Deckmantel, um zu stehlen und zu betrügen?
Der Pope sang den Segen. Einige der frommeren Männer hatten einen Chor gebildet – was ihre walisischen Nachbarn von Herzen guthießen –, und nun sangen sie das erste Amen. Lew bekreuzigte sich, als die anderen es taten, war mit den Gedanken aber ganz bei Spirja. Einem Geistlichen sähe es ähnlich, die Wahrheit auszuplaudern und alles zu verderben: keine Kartenspiele mehr, keine Fahrkarte nach Amerika, kein Geld für Grigori.
Lew rief sich den letzten Tag auf der Erzengel Gabriel ins
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