Sturz der Titanen
Gedächtnis, als er Spirja gedroht hatte, ihn über Bord zu werfen. Vielleicht dachte Spirja gerade ebenfalls daran. Lew wünschte sich, er hätte ihn nicht so gedemütigt.
Während des Gottesdienstes musterte er Spirja und versuchte, in dessen Gesicht zu lesen. Als er nach vorn ging, um das Abendmahl zu empfangen, suchte er nach dem Blick seines alten Freundes, doch Spirja ließ sich durch nichts anmerken, ob er Lew überhaupt erkannt hatte: Der Priesterschüler war völlig in das Ritual versunken, oder tat zumindest so.
Nach dem Gottesdienst fuhren die beiden Geistlichen mit der Prinzessin im Automobil davon, und die ungefähr dreißig russisch-orthodoxen Gläubigen folgten zu Fuß. Lew fragte sich, ob Spirja ihn ansprechen und wie er sich dann verhalten würde. Würde er so tun, als hätten sie nie betrogen und falschgespielt? Oder plauderte er alles aus und beschwor den Zorn der Bergarbeiter auf Lews Haupt herab? Würde er für sein Schweigen einen Preis verlangen?
Lew war versucht, die Stadt auf der Stelle zu verlassen. Alle ein bis zwei Stunden ging ein Zug nach Cardiff. Hätte er mehr Geld gehabt, er hätte sofort die Flucht ergriffen, doch was er besaß, reichte nicht für die Fahrkarte nach New York, und so schlurfte er aus der Stadt den Hügel hinauf zum Mittagessen im Palast des Earls.
Sie aßen im Dienstbotenquartier unter der Treppe. Das Essen war herzhaft: Lammeintopf mit so viel Brot, wie man vertilgen konnte, dazu Bier, um alles hinunterzuspülen. Die nicht mehr ganz so junge russische Zofe Nina gesellte sich zu ihnen und dolmetschte. Sie mochte Lew und sorgte dafür, dass er mehr Bier bekam als die anderen.
Der Pope aß mit der Fürstin, aber Spirja kam ins Dienstbotenzimmer und nahm neben Lew Platz. Lew setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. »Alter Freund! Was für eine Überraschung!«, rief er auf Russisch. »Meinen Glückwunsch!«
Spirja blieb ungerührt. »Spielst du noch immer Karten, mein Sohn?«, entgegnete er.
Lew senkte die Stimme. »Ich halte die Klappe, wenn du auch die Klappe hältst. Abgemacht?«
»Wir sprechen nach dem Essen darüber.«
Lew wusste weder aus noch ein. Worauf zielte Spirja ab – auf Rechtschaffenheit oder Erpressung?
Nach dem Essen ging Spirja zur Hintertür hinaus, und Lew folgte ihm. Wortlos führte Spirja ihn zu einem weißen Rundbau, der wie ein griechischer Miniaturtempel aussah. Von der erhöhten Plattform sah man sofort, wenn jemand näher kam. Es nieselte, und das Wasser perlte an den Marmorsäulen ab. Lew schüttelte sich den Regen von der Mütze und setzte sie wieder auf.
Spirja sagte: »Erinnerst du dich noch, was du auf dem Schiff getan hast, als ich dich fragte, was du tun würdest, wenn ich dir nicht die Hälfte des Geldes abgebe?«
Lew hatte Spirja über die Reling gedrückt und gedroht, ihm den Hals zu brechen und seine Leiche ins Meer zu werfen. »Nein, das weiß ich nicht mehr«, log er.
»Spielt auch keine Rolle«, sagte Spirja. »Ich wollte dir nur vergeben.«
Also Rechtschaffenheit, dachte Lew erleichtert.
»Was wir damals getan haben, war Sünde«, fuhr Spirja fort. »Ich habe gebeichtet und Absolution erhalten.«
»Dann frage ich deinen Popen nicht, ob er Lust auf ein Kartenspiel hat.«
»Lass die Scherze.«
Lew wollte Spirja bei der Kehle packen, wie er es auf dem Schiff getan hatte, aber Spirja machte nicht mehr den Eindruck, als würde er sich einschüchtern lassen. Ironischerweise hatte ausgerechnet das Priesterkleid ihm Mumm verliehen.
Spirja fuhr fort: »Ich sollte dein Verbrechen denen offenbaren, die du beraubt hast.«
»Sie würden es dir nicht danken.«
»Mein Priestergewand wird mich schützen.«
Lew schüttelte den Kopf. »Von denen, die wir übers Ohr gehauen haben, waren die meisten arme Juden. Sie erinnern sich wahrscheinlich, dass Popen mit einem Lächeln auf den Lippen zugesehen haben, wie die Kosaken sie zusammengeschlagen haben. In deinem Gewand treten sie dich vielleicht umso eifriger tot.«
Ein Schatten des Zorns zog über Spirjas junges Gesicht hinweg, doch er zwang sich zu einem wohlwollenden Lächeln. »Ich mache mir größere Sorgen um dich, mein Sohn. Nur ungern würde ich Gewalt gegen dich wecken.«
Lew wusste, wann ihm gedroht wurde. »Was wirst du tun?«
»Das hängt von deinem Verhalten ab.«
»Wirst du den Mund halten, wenn ich aufhöre?«
»Wenn du beichtest, aufrichtig bereust und deinen Sünden abschwörst, wird Gott dir vergeben – und dann steht es mir nicht zu, dich zu
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