Sturz der Titanen
Vyalov.« Sie streckte ihre weiß behandschuhte Hand aus.
»Ja, natürlich«, sagte Gus. Olgas Vater war ein russischer Emigrant, dessen Karriere als Rausschmeißer in einer Bar in der Canal Street begonnen hatte. Mittlerweile gehörte ihm die Straße. Er war Stadtrat und eine Stütze der russisch-orthodoxen Gemeinde. Gus hatte Olga schon mehrere Male getroffen, erinnerte sich aber nicht daran, dass sie so bezaubernd war. Olga war um die zwanzig, mit weißer Haut und blauen Augen. Sie trug eine rosa Weste mit hohem Kragen und einen Glockenhut mit pinkfarbenen Seidenblumen.
»Ich habe gehört, Sie arbeiten für den Präsidenten«, sagte sie. »Was halten Sie von Mr. Wilson?«
»Ich bewundere ihn sehr«, antwortete Gus. »Er ist ein pragmatischer Politiker, hat aber nie seine Ideale aufgegeben.«
»Es ist sicher sehr aufregend, im Zentrum der Macht zu sein.«
»Aufregend schon, aber seltsamerweise fühlt es sich gar nicht wie das Machtzentrum an. In einer Demokratie ist der Präsident dem Willen des Volkes unterworfen.«
»Aber er tut doch sicher nicht nur , was die Öffentlichkeit von ihm verlangt.«
»Das nicht. Präsident Wilson sagt immer, für einen Politiker sei die öffentliche Meinung das, was für einen Seemann der Wind ist. Ein Seemann nutzt den Wind, um sein Schiff in die ein oder andere Richtung fahren zu lassen, aber er steuert nie direkt dagegen.«
Olga seufzte. »Ich hätte so etwas auch gerne studiert, aber mein Vater wollte mich nicht aufs College lassen.«
Gus grinste. »Wahrscheinlich hat er geglaubt, Sie würden dort nur Gin trinken und Zigaretten rauchen.«
»Und Schlimmeres, da bin ich mir sicher«, sagte sie. Das war eine riskante Bemerkung für eine unverheiratete junge Frau, und Gus war seine Überraschung offenbar anzusehen, denn Olga sagte: »Oh, jetzt habe ich Sie schockiert. Tut mir leid.«
»Nein, im Gegenteil.« Tatsächlich war Gus wie verzaubert. Um sie zum Weiterreden zu animieren, fragte er: »Was würden Sie denn studieren, wenn Sie aufs College dürften?«
»Geschichte.«
»Ich liebe Geschichte. Irgendeine bestimmte Epoche?«
»Ich würde gerne meine eigene Vergangenheit verstehen. Warum musste mein Vater Russland verlassen? Warum ist Amerika so viel besser? Es muss Gründe dafür geben.«
»Oh ja.« Gus war fasziniert, dass ein so hübsches Mädchen seine intellektuelle Neugier teilte. Plötzlich hatte er eine Vision von ihnen beiden als verheiratetem Paar, im Ankleidezimmer nach einer Party, wo sie über internationale Politik diskutierten, er im Pyjama, während sie sich ohne Eile Schmuck und Kleider auszog … Dann sah er Olgas Blick, und ihn überkam das Gefühl, sie wusste, was er gerade gedacht hatte. Verlegen suchte er nach irgendetwas, was er hätte sagen können, brachte aber kein Wort hervor.
Dann kam der Vortragende, und Schweigen senkte sich über das Auditorium.
Gus genoss den Vortrag mehr, als er erwartet hatte. Der Sprecher hatte Autochromplatten von einigen Gemälden Tizians angefertigt, und mit seiner Laterna magica projizierte er sie nun auf eine große weiße Leinwand.
Als der Vortrag zu Ende war, hätte Gus zu gerne noch ein bisschen mit Olga geplaudert, bekam aber nicht die Gelegenheit, denn Chuck Dixon, den er aus der Schule kannte, trat zu ihnen. Chuck besaß einen lässigen Charme, um den Gus ihn beneidete. Sie waren gleich alt, fünfundzwanzig, doch in Chucks Gegenwart fühlte Gus sich jedes Mal wie ein ungelenker Schuljunge. »Olga, Sie müssen meinen Vetter kennenlernen«, sagte Chuck in jovialem Tonfall. »Er hat Sie die ganze Zeit angestarrt.« Er lächelte Gus freundlich an. »Tut mir wirklich leid, dich solch bezaubernder Gesellschaft zu berauben, Dewar, aber du kannst sie nicht den ganzen Nachmittag für dich allein beanspruchen.« Besitzergreifend legte er Olga den Arm um die Hüfte und führte sie davon.
Gus fühlte sich in der Tat beraubt. Er hatte sich so gut mit Olga verstanden. Normalerweise fiel ihm das erste Gespräch mit einem Mädchen immer schwer; bei Olga aber war es anders. Und nun hatte ausgerechnet Chuck Dixon, der in der Schule der größte Versager gewesen war, sie sich geschnappt wie einen Drink vom Tablett eines Kellners und war mit ihr entschwunden.
Während Gus nach anderen Bekannten Ausschau hielt, kam ein einäugiges Mädchen namens Rosa Hellman zu ihm. Als er Rosa das erste Mal gesehen hatte – bei einer Gala für das Buffalo Symphony Orchestra, in dem ihr Bruder spielte –, hatte er geglaubt, sie würde
Weitere Kostenlose Bücher