Sturz der Titanen
ihm zuzwinkern. Tatsächlich aber hielt Rosa ein Auge ständig geschlossen. Ihr Gesicht war leidlich hübsch, was den Makel aber nur noch deutlicher hervorhob. Außerdem war Rosa stets wie zum Trotz besonders stilsicher gekleidet. An diesem Tag trug sie einen Strohhut, den sie sich auf kesse Weise schief aufgesetzt hatte; sie sah damit richtig niedlich aus.
Bei ihrer letzten Begegnung hatte Rosa als Redakteurin bei einer kleinen, radikalen Zeitung mit Namen The Buffalo Anarchist gearbeitet, und so fragte Gus nun: »Interessieren Anarchisten sich auch für Kunst?«
»Ich arbeite jetzt für den Evening Advertiser «, erwiderte Rosa.
Gus war überrascht. »Kennt der Verleger Ihre politischen Ansichten?«
»Meine Ansichten sind nicht mehr ganz so extrem wie früher, aber er kennt meine Geschichte.«
»Wahrscheinlich hat er sich gesagt, wenn die junge Dame sogar bei einer Anarchistenzeitung Erfolg hat, muss Sie sehr tüchtig sein.«
»Mir sagte er, er habe mir die Stelle gegeben, weil ich mehr cojones hätte als seine männlichen Reporter.«
Gus wusste, dass Rosa gerne schockierte; dennoch klappte ihm die Kinnlade herunter.
Rosa lachte. »Trotzdem lässt er mich über Kunstausstellungen und Modenschauen berichten.« Sie wechselte das Thema. »Wie ist es eigentlich so, im Weißen Haus zu arbeiten?«
Gus war sich bewusst, dass alles, was er jetzt sagte, am nächsten Tag in der Zeitung stehen konnte. »Unglaublich aufregend«, antwortete er. »Mr. Wilson ist ein großer Präsident. Der größte, den wir je hatten.«
»Wie können Sie so etwas sagen? Er steht gefährlich kurz davor, uns in einen europäischen Krieg zu verwickeln.«
Rosas Haltung war typisch für deutschstämmige Amerikaner, die das Geschehen naturgemäß aus deutscher Sicht betrachteten; waren sie obendrein Linke, wollten sie den Zaren beseitigt sehen – eine Meinung, die allerdings auch viele Leute vertraten, die weder deutsch noch links waren. Vorsichtig erwiderte Gus: »Wenn deutsche U -Boote amerikanische Staatsbürger töten, kann der Präsident nicht …« Er wollte sagen: »einfach ein Auge zukneifen«, zögerte aber, errötete und sagte schließlich: »Er kann das nicht einfach so hinnehmen.«
Rosa schien seine Verlegenheit nicht zu bemerken. »Aber die Briten blockieren die deutschen Häfen. Das ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht und hat zur Folge, dass deutsche Frauen und Kinder verhungern. Gleichzeitig herrscht in Frankreich ein Patt: Beide Seiten haben sich in den letzten sechs Monaten kaum einen Zoll bewegt. Die Deutschen müssen britische Schiffe versenken, sonst verlieren sie den Krieg.«
Rosa legte ein beeindruckendes Verständnis für komplexe Zusammenhänge an den Tag; deshalb genoss Gus Dewar es ja auch so sehr, mit ihr zu reden. »Ich habe Völkerrecht studiert«, sagte er. »Im Grunde handeln die Briten gar nicht illegal. Seeblockaden wurden zwar in der Londoner Erklärung von 1909 geächtet, aber diese Übereinkunft wurde nie ratifiziert.«
So leicht gab Rosa sich nicht geschlagen. »Vergessen wir mal die juristischen Feinheiten. Die Deutschen haben die Amerikaner gewarnt, nicht an Bord britischer Passagierschiffe zu reisen. Sie haben sogar Zeitungsanzeigen geschaltet, um Himmels willen! Was sollen sie denn sonst noch tun? Nehmen wir mal an, wir befänden uns im Krieg mit Mexiko, und die Lusitania sei ein mexikanisches Schiff voller Waffen gewesen, mit denen amerikanische Soldaten getötet werden sollen. Hätten wir sie durchgelassen?«
Das war eine gute Frage, und Gus wusste keine vernünftige Antwort darauf. »Nun ja«, sagte er, »Außenminister Bryan stimmt Ihnen darin zu.« William Jennings Bryan hatte nach Wilsons Note an die Deutschen seinen Rücktritt eingereicht. »Er meinte, wir müssten die Amerikaner lediglich davor warnen, nicht auf Schiffen Krieg führender Parteien zu reisen.«
Rosa wollte ihn noch nicht vom Haken lassen. »Bryan hat erkannt, dass Wilson ein großes Risiko eingegangen ist«, sagte sie. »Wenn die Deutschen jetzt keinen Rückzieher machen, können wir einen Krieg mit ihnen kaum vermeiden.«
Gus würde einer Reporterin gegenüber niemals zugeben, dass er diese Ansicht teilte. Wilson hatte von den Deutschen verlangt, sämtliche Angriffe auf Handelsschiffe sofort einzustellen, Reparationen zu zahlen und dafür zu sorgen, dass so etwas nicht mehr vorkommt … mit anderen Worten: Die Deutschen sollten den Briten die Freiheit der Meere zugestehen, während ihre eigenen Schiffe
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